Psychother Psychosom Med Psychol 2005; 55 - P_023
DOI: 10.1055/s-2005-863460

Erhöhen frühe Stresserfahrungen die Vulnerabilität für eine somatoforme Schmerzstörung oder für die psychische Komorbidität?

UT Egle 1, R Nickel 2, B Kappis 2, F Petrak 2, R Schwab 2, M Daubländer 2, J Hardt 2
  • 1Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinik Mainz
  • 2Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Schmerzsprechstunde der Klinik für Anästhesiologie, Poliklinik für Zahnärztliche Chirurgie, Interdisziplinäres Schmerztherapie-Zentrum (IST) des Universitätsklinikums Mainz

Fragestellung: In den letzten Jahren zeigten eine Reihe von Studien eine erhöhte Vulnerabilität für eine somatoforme Störung als Langzeitfolge früher Stresseinwirkungen in der Kindheit. Dabei wurde allerdings die Bedeutung psychischer Komorbidität nicht berücksichtigt. Methode: Mit Hilfe eines strukturierten biographischen Interviews (MSBA) und des Kindheitsfragebogens (KFB) wurden bei N=283 Schmerzpatienten (74% Frauen, Durchschnittsalter 45 Jahre), bei denen durch fachübergreifende somatische Ausschlussdiagnostik und SCID eine somatoforme Störung (SOMS) diagnostiziert worden war, frühe Stresserfahrungen und kompensatorische Schutzfaktoren sowie die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung retrospektiv erhoben. SCID-I und –II erfassten das Vorliegen psychischer Komorbidität. Als Vergleichsgruppe diente eine nach Alter und Geschlecht parallelisierte Patientengruppe aus Allgemeinpraxen (VG, N=396), bei der mittels SCL-27- Screening eine psychische Morbidität ausgeschlossen worden war (GSI <0,8)

Ergebnisse: 67% der SOM-S weisen eine zusätzliche psychische Komorbidität (SOMS+) auf, v.a. Angst- und depressive Erkrankungen; 14% eine Persönlichkeitsstörung (v.a. Cluster C). SOMS unterscheidet sich hinsichtlich einzelner Belastungsfaktoren nicht signifikant von VG; auch der Gesamtbelastungsscore und das Ausmaß kompensatorischer Schutzfaktoren waren nicht signifikant unterschiedlich. Vergleicht man SOMS+ (n=194) mit somatoformen Patienten ohne Komorbidität (SOMS-, n=89), so weist SOMS+ signifikant häufiger frühe Stresserfahrungen auf, z.B. das Fehlen einer kontinuierlichen emotionalen Bezugsperson, familiäre Disharmonie mit handgreiflichen Auseinandersetzungen, ein suchtkrankes Elternteil; auch der Gesamtbelastungsscore liegt bei SOMS+ im Vergleich zu VG signifikant höher. Bei den protektiven Faktoren besteht signifikant seltener ein extravertiertes Temperament bei SOMS+. Die Beziehung zur Mutter war bei SOMS signifikant häufiger durch Rollenumkehr (Parentifizierung), die Beziehung zum Vater bei SOMS+ signifikant häufiger durch dessen Kontroll- sowie Strafverhalten geprägt.

Diskussion: Die Ergebnisse dieser weltweit größten Stichprobe somatoformer Störungen mit Leitsymptom Schmerz weisen auf die Notwendigkeit einer Subgruppendifferenzierung hin. Frühe Stresserfahrungen erhöhen offensichtlich vor allem die Vulnerabilität für die psychische Komorbidität (Angst, Depression, Persönlichkeitsstörung) und nicht für die somatoforme Störung per se. Das früh geprägte Beziehungsmuster Rollenumkehr trägt zum Verständnis des bei dieser Patientengruppe im Erwachsenenalter häufig zu beobachtenden überaktiv-überfürsorglichen Verhaltens bei, das wesentlicher Bestandteil ihrer Selbstüberforderung ist. Kontroll- und Strafverhalten seitens des Vaters prägten wahrscheinlich wesentlich den strengen Umgang mit sich selbst und die fehlende Genußfähigkeit bei somatoformen Schmerzpatienten mit psychischer Komorbidität.

Gefördert von der DFG (Eg 125/1) sowie der Innovationsstiftung Rheinland-Pfalz (Hardt & Egle