Psychother Psychosom Med Psychol 2005; 55 - S_053
DOI: 10.1055/s-2005-863399

Die Identifikation von Patientengruppen durch Receiver Operating Characteristics (ROC) am Beispiel der Diagnose des dekompensierten Tinnitus – Hinweise auf ein mögliches Validitätsproblem des dekompensierten Tinnitus

P Malewski 1, B Jäger 1, G Matschke 2, F Lamprecht 1
  • 1Abt. Psychosomatik und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover
  • 2Abteilung HNO, Medizinische Hochschule Hannover

Der ‘dekompensierte Tinnitus' (DT) wird vor allem durch die Krankheitsfolgen definiert. Der vagen Definition des DT entspricht die in der Literatur zu findende Vielfalt an Operationalisierungen. Hauptziel ist eine methodenkritische Sichtung des Begriffs des DT. Methode: Aus Ermangelung einer verbindlichen Definition werden in der vorliegenden Studie etablierte Instrumente zur Erfassung der Tinnitusfolgen, Instrumente zur Erfassung der allgemeinen Psychopathologie und konkurrierender Belastungen mit einem Expertenurteil verglichen. Dazu wurden insgesamt 56 teilstrukturierte Interviews (randomisiert) ein Jahr nach dem Beginn des Tinnitus geführt und die Dekompensation beurteilt. Mit Hilfe der ROC wurde die Fähigkeit etablierter Instrumente sowie deren Items zur Identifikation der Patientengruppen bestimmt und eine neue experimentelle Skala entwickelt. Ergebnisse: Abbildung 1 zeigt die unterschiedlichen ROC-Kurven der eingesetzten Instrumente. Wie ersichtlich, unterscheiden sich die eingesetzten Instrumente nur geringfügig. Der konstruierte Score war hier besonders erfolgreich. Weiterhin fällt auf, dass der optimale Klassifikationspunkt der tinnitusspezifischen Skalen bei den Prozenträngen von 65 und 24 liegt. Schlussfolgerungen: Die Studie zeigt insgesamt das Validitätsproblem des DT auf: Tinnitusspezifische Skalen sind kaum besser als konkurrierende Instrumente für die Identifikationsaufgabe geeignet. Weiterhin ist in die optimale Identifikationsskala nur 1 (insgesamt 10) tinnitusspezifisches Item eingegangen. Als Konsequenz ist zu ziehen, dass eine zuverlässige Bestimmung des DT nicht alleine durch tinnitusspezifische Instrumente erfolgen kann. Da weiterhin die Normierung der tinnitusspezifischen Skalen durch klinische Stichproben erfolgte, sind die publizierten Prozentränge nicht verwendbar. Die ROC Methode wird hinsichtlich ihrer bisher vernachlässigten Rolle im diagnostischen Prozess diskutiert.