Psychother Psychosom Med Psychol 2005; 55 - S_030
DOI: 10.1055/s-2005-863376

Zum Vorkommen artifizieller Störungen in Klinik und Praxis – Eine Expertenbefragung unter Ärzten

A Grimm 1, RD Kocalevent 1, A Eckhardt-Henn 2, U Gieler 3, K Martin 4, A Keller 5, BF Klapp 1, H Fliege 1
  • 1Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik, Charité Universitätsmedizin Berlin
  • 2Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universität Mainz
  • 3Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Gießen
  • 4Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrisches Krankenhaus Dortmund Aplerbeck, Dortmund
  • 5Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, TU Dresden

Patienten mit Artifiziellen Störungen rufen einen hohen Behandlungsaufwand hervor. Die Störung wird häufig nicht erkannt und adäquat weiterbehandelt. Epidemiologische Befunde sind eingeschränkt. Die Studie will die Häufigkeit Artifizieller Störungen unter somatischen Patienten abschätzen und Informationen zur Weiterbehandlung sammeln. 253 Ärzte verschiedener Fachrichtungen (Innere Medizin, Chirurgie, Dermatologie, Neurologie), die eine Klinik(-abteilung) oder eine Praxis leiteten, wurden befragt zu der Gesamtzahl der Behandlungsfälle eines Jahres, dem geschätzten Anteil Artifizieller Störungen, der Relevanz der Störung, der eigenen Informiertheit und zu der üblichen Weiterversorgung. Die Rücklaufquote beträgt 48%. In 95% aller Einrichtungen werden Artifizielle Störungen diagnostiziert. Die mittlere Prävalenzschätzung beträgt 1,32% (0,0001% bis 15%). Je mehr Behandlungsfälle eine Einrichtung hat, desto geringer wird der Anteil Artifizieller Störungen geschätzt. Zwischen den Fachdisziplinen bestehen signifikante Unterschiede. Zusammenhänge mit der Informiertheit der Ärzte zeigen sich nicht. Klinikärzte messen der Störung größere Relevanz bei als Niedergelassene, geben jedoch keine höhere Prävalenz an. 35% der Ärzte schätzen sich als unzureichend über die Störung informiert ein. In Praxen wird ein im Vergleich zu Kliniken größerer Anteil der Patienten mit Artifiziellen Störungen nicht fachkompetent weiterbehandelt (32% vs. 10%). Die Ergebnisse weisen auf ein breites Vorkommen Artifizieller Störungen. Auch mittels Expertenbefragung ist nicht die „wahre“ Prävalenz zu ermitteln. Von der Literatur abweichende Prävalenzschätzungen werden anhand kognitionspsychologischer Modelle diskutiert (Rückschaufehler, probabilistische mentale Modelle, Verfügbarkeitsheuristik), die die Einschätzungsprozesse der Ärzte erklären helfen. Bessere Information für Ärzte wird als abschließendes Desiderat formuliert.