intensiv 2005; 13(6): 272-273
DOI: 10.1055/s-2005-858771
Pflegewissenschaft

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Angehörige auf der Intensivstation

Angelika Zegelin1
  • 1Stiftung Pflege e. V., Witten
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Publication Date:
30 November 2005 (online)

Das „Patientsein” auf einer Intensivstation stellt ohne Zweifel eine bedrohliche Situation für alle Menschen dar, allzu häufig wird dabei die Anwesenheit vertrauter Menschen untersagt oder stark reglementiert. Dabei können die Angehörigen in existenziellen Krisen überlebenswichtig sein - wissenschaftliche Belege dafür mehren sich.

Der Verein „Stiftung Pflege e. V.” ist angetreten, um Erkenntnisse der Pflegeforschung in die Bevölkerung zu bringen, und möchte sich dem Thema „Angehörige auf Intensivstationen” widmen. Pflegende und Mediziner sollen sensibilisiert werden, behutsamer und bewusster auf die Angehörigen einzugehen und im Interesse der Patient/Innen gute Lösungen zu finden. Angehörige sollen ermutigt werden, nachzufragen und auf einen engen Kontakt zu „ihren” Kranken zu bestehen.

Ausgangspunkt sind verschiedene wissenschaftliche Arbeiten. Sabine Metzing und Julika Osarek untersuchten in einer Literaturarbeit die verschiedenen Besuchsregelungen auf den Intensivstationen. Sie fassten die internationale Datenlage zusammen und identifizierten drei Besuchszeitmodelle: das restriktive Modell, das offene und das Vertragsmodell. Das restriktive Modell mit streng regulierten „Besuchszeiten”, häufig institutionell vorgegeben, überwog dabei weitgehend [1].

Besonders auffällig waren die Zufälligkeit und die unterschiedlichste Auslegung der „Vorschriften” - je nach Situation und je nach Pflegeperson bzw. Arzt durften Angehörige zu den Patienten oder nicht. Ein Bündel an verschiedenen Rechtfertigungen diente der Erklärung: Belastung, Ruhe/Erholung, hygienische Bedenken, aber auch Angst vor Kontrolle und Sorgen über Mehrarbeit kamen vor. Allen scheint klar, dass die Anwesenheit der Angehörigen gewisser Überlegungen und Vorkehrungen bedarf. Deutlich wurde auch, dass die Angehörigen der Intensivpatienten nicht im Fokus der pflegerischen Bemühungen standen, sondern sogar mitunter als Störenfriede betrachtet wurden.

Dass sich diese Ansicht bis ins dritte Jahrtausend gehalten hat, ist erstaunlich, denn schon in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts begannen Forschungen über die außerordentlichen (zusätzlichen) Belastungen bei Intensivpatienten [2].

Zusätzlich zu Todesangst und Zukunftssorgen kommen Schmerzen, Kommunikationserschwernisse, eingeschränkte Mobilität, Lärm/Licht und zahlreiche weitere Stressoren vor. Offensichtlich sind in den letzten Jahrzehnten auch die zahlreichen (sozial)wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema „social support” nicht für Pflege und Medizin aktiviert worden.

Sabine Metzing, Mitarbeiterin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke, führte in ihrer Masterarbeit zwölf Tiefeninterviews mit ehemaligen Intensivpatienten durch, um die Besuchssituation aus der Sicht der Betroffenen selbst zu eruieren. Die Studie ist an verschiedenen Stellen veröffentlicht [3] [4], ein Artikel über diese Arbeit ist von der Homepage der Stiftung Pflege herunterzuladen (http://www.stiftung-pflege.de). Der Text ist übertitelt mit „Ohne Familie geht’s nicht” und dies ist auch gleich das wichtigste Ergebnis dieser Forschungsarbeit. Die Patient/Innen empfinden ihre Verwandten nicht als „Besuch”, sondern als überlebenswichtig.

In den ersten Ergebniskategorien zeigte sich, dass das Erleben als existenzielle Krise zur Bedeutung der Angehörigen auf der Intensivstation beitrug. Die Wahrnehmung der „Intensivpflegenden” geschieht in vielen Fällen als mechanistisch orientiert und wenig empathisch. Den Angehörigen wird aus Sicht der Patienten ein höherer Stellenwert zu ihrem Überleben eingeräumt als den Professionellen. Das „Vertraut-Sein” mit den Verwandten und die gewachsenen Beziehungen zu ihnen stärken die Patienten. Selbst beim besten Willen können Professionelle diese Rolle nicht ersetzen. Die Kategorie „sich kümmern” beschreibt den emotionalen und praktischen Beistand der Angehörigen. Deren Dasein wirkt beruhigend und wohltuend, Blicke und Berührungen stützen, die Anteilnahme hilft. Der praktische Beistand wird deutlich in Aussagen über „regeln und organisieren”, „sich beraten” und „aufpassen und schützen”. Die aktive Beteiligung bei pflegerischen Maßnahmen wird geschätzt, besonders dann, wenn zwischen dem Pflegeteam und den Angehörigen ein „Wir”-Gefühl entsteht.

Metzing beruft sich auf Marsden [5] und weist richtigerweise darauf hin, „dass sich soziale Beziehungen von Menschen nicht auflösen, weil ein Mensch krank wird” [4]. Sie führt aus, „dass das Leben eines Menschen vor der Aufnahme auf eine Isolierstation in ein soziales System eingebettet war und dieses System die Persönlichkeit eines Menschen prägt” und „dass ein Mensch mit der Aufnahme auf eine Intensivstation demnach nicht seine Identität verliert ...”[4].

Der Verein „Stiftung Pflege e. V.” möchte diese Ergebnisse in den nächsten Monaten auf verschiedene Weise bekannter machen. Dabei geht es keinesfalls um eine unreflektierte „Öffnung der Intensivstationen” - es gibt durchaus auch Grenzen für Besuch. Allerdings sollte ein Rahmen geschaffen werden, der im Einzelfall die bestmögliche Lösung zulässt und die wichtige Bedeutung der nächsten Angehörigen für die Genesung anerkennt. „Angehörige als Medikament” heißt es bei einigen, und Metzing fordert, dass „Angehörige” als Teil des therapeutischen Teams begriffen werden [4].

Im Sommer 2005 wurden Experten (u. a. Intensivpflegende/-mediziner, Juristen) zu einer Diskussion ins Wittener Institut eingeladen. Sie empfahlen ein mehrschrittiges Aktionsprogramm. Im Frühjahr 2006 soll ein „Punkte-Papier” vorgelegt und über die Medien in die Bevölkerung transportiert werden; es wird entscheidende Wünsche/Forderungen aus der Sicht der Patienten zur Anwesenheit der Angehörigen formulieren.

An dieser Stelle soll zunächst die Fachöffentlichkeit (nochmals) informiert werden. Wir hoffen, dass die Leser/Innen von „intensiv” dieses Thema mit ihren Kolleg/Innen besprechen. Nehmen Sie Kontakt mit uns auf, wenn Sie Anregungen geben wollen.

Wir gehen davon aus, dass die Leitungen der entsprechenden Weiterbildungen die Diskussion als Lehrinhalt aufgreifen und auch die Fachgesellschaften sich beteiligen.

Eine Analyse der Aufnahme- und Behandlungsverträge verschiedener Krankenhäuser ergab, dass sich keine Aussagen zu der besonderen Situation von Intensivpatient/Innen finden. Im August/September 2005 ist eine deutschlandweite Befragung von WeiterbildungsteilnehmerInnen zu Besuchsregelungen auf Intensivstationen durchgeführt worden. Die Ergebnisse werden in Kürze auf der Vereinshomepage und in Fachzeitschriften vorgestellt. In den nächsten Monaten sind Pressekonferenzen geplant, Modelle „guter Praxis” sollen künftig prämiert werden.

Literatur

  • 1 Metzing S, Osarek J. Besuchsregelungen auf Intensivstationen.  Pflege. 2000;  242-252
  • 2 Hannich H J. (Hrsg) .Psychosomatik der Intensivmedizin. Stuttgart/New York; Thieme 1983
  • 3 Metzing S. Ohne Familie geht’s nicht. Nydahl P, Bartoszek G Basale Stimulation. 4. Aufl München; Urban & Fischer 2003: 270-282
  • 4 Metzing S. Bedeutung von Besuchen für Patientinnen und Patienten während ihres Aufenthaltes auf einer Intensivstation. Abt-Zegelin A Fokus Intensivpflege. Wittener Schriften Hannover; Schlütersche 2004: 159-217
  • 5 Marsden C. Family-centered critical care: an option or obligation?.  Am J of Critical Care. 1992;  115-117

Dr. Angelika Zegelin

Pflegewissenschaftlerin/Fachbeiratsvorsitzende

Stiftung Pflege e.V.

Stockumerstr. 12

58453 Witten

Email: zegelin@stiftung-pflege.com

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