intensiv 2005; 13(5): 211-214
DOI: 10.1055/s-2005-858405
Pflegewissenschaft

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Patientendaten-Managementsysteme in der Intensivpflege - eine kritische Analyse

Pascal Lubin1
  • 1Bremen
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Publication Date:
29 September 2005 (online)

Einleitung

Das Gesundheitssystem und damit auch die Krankenhäuser erleben zurzeit einen grundlegenden Wandel. Dabei sind es vor allem zwei Momente, die den Umbruch strukturieren:

die Ökonomisierung: Krankenhäuser sind zunehmend Wirtschaftsbetriebe mit allen Konsequenzen sowie die Patientenorientierung: die Patienten werden immer mehr zu kritisch-aufgeklärten Kunden und erwarten neben einer angemessenen medizinischen Behandlung auch die Respektierung ihrer Individualität. Die persönlichen Ängste und Sorgen sollen dabei genauso im Mittelpunkt stehen wie ihre Symptome. Das firmierte unter dem Konzept der „ganzheitlichen” Pflege. Wie sich dann qualitative Pflege definiert, wird noch weiter unten zu diskutieren sein.

Dies stellt den institutionellen Kontext, vor dem der Einsatz von Patientendaten-Managementsystemen (PDMS) verhandelt wird. PDM-Systeme halten auf vielen Intensivstationen Einzug. Diese EDV-Systeme sollen möglichst lückenlos die Vitaldaten aus dem Überwachungsmonitor und die Daten der Beatmungsmaschine dokumentieren. Je nach Netzwerkarchitektur können sie dann auch Laborwerte, Röntgenbefunde, die persönlichen Daten des Patienten von den jeweiligen Servern laden oder die relevanten Daten an den Server der Rechnungsabteilung übergeben usw.

Dabei sprechen drei gewichtige Faktoren für die Implementierung eines solchen Systems:

Das Sozialgesetzbuch fordert Transparenz der erbrachten Leistung 1. Diese ist mit zentral einsehbaren EDV-Systemen erheblich einfacher zu realisieren als mit Daten, die in Papierformat vorliegen; der Aufwand der Dokumentation, vor allem der Pflege, wird auf gut 30 % der gesamten Arbeitszeit geschätzt 2. Eine zumindest partielle Automatisierung dieser Dokumentation würde dementsprechend erhebliche Ressourcen freisetzen; Daten, die im EDV-Format vorliegen, sind systemimmanent gut zu lesen. Behandlungsfehler aufgrund unleserlicher handschriftlicher Anordnungen sind somit ausgeschlossen.

Die hohen Kosten bei der Implementierung, die 2001 mit 10 000 bis 30 000 DM pro Arbeitsplatz beziffert wurden [3], lassen sich dabei nach Meinung vieler Autoren nicht allein durch die medizinische (und schon gar nicht pflegerische) Dokumentation rechtfertigen. Eine zentrale Rolle bei der Implementierung eines PDMS stellt die Möglichkeit dar, mit solch einem System verbesserte Abrechnungsmöglichkeiten und die Implementierung von Richtlinien, Standards und Clinical Pathways[1] in der Software zu verankern [4].

Diese Arbeit möchte den zweifelsohne vorhandenen positiven Aspekten eine kritische Sicht gegenüberstellen und daraus, in einem kurzen Aufriss, didaktische Konsequenzen ableiten.

Insbesondere möchte ich dabei aufzeigen, dass

der Einsatz von Pflegestandards einer Expertenpflege diametral gegenübersteht und sich das Problem der Querlage der Lebenswelt der Patienten und dem System Krankenhaus durch den Einsatz von PDM-Systemen weiter verstärkt.

Dabei soll im ersten Teil ein sozialphilosophischer Rahmen gespannt werden, der im zweiten Teil mit handlungspragmatischen Problemlagen gefüllt wird.

Literatur

  • 1 Sozialgesetzbuch 5, § 137. 
  • 2 Hankeln K B, Wischnewski M B, Küspert J. et al . Monitoring 2000. Computerprogramm zum Liquid-Management, zur automatischen Kurvenführung und zur integrierten Therapieplanung bei Intensivpatienten.  Journal für Anästhesie und Intensivbehandlung. 1998;  63-64
  • 3 Benson M, Junger A, Michel A. et al . EDV-gestützter Ressourceneinsatz in Klinik und Intensivmedizin.  Journal für Anästhesie und Intensivbehandlung. 2001;  1 23-25
  • 4 Imhoff M. Medizinische Dokumentation. Gestern, heute, morgen.  Journal für Anästhesie und Intensivbehandlung. 2000;  1 76-77
  • 5 Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege und zur Änderung anderer Gesetze vom 16. Juli 2003. Bundesgesetzblatt Jahrgang 2003, Teil 1, Nr. 36, ausgegeben zu Bonn am 21. Juli 2003.   , www.bmgs.bund.de/download/gesetze/gesundheitsberufe/KrankenpflegegesetzFassung.pdf (20.2.2005)
  • 6 Nerheim H. Die Wissenschaftlichkeit der Pflege. Paradigmata, Modelle und kommunikative Strategien für eine Philosophie der Pflege- und Gesundheitswissenschaften. Bern; Huber 2001
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  • 11 Steinmüller W. Informationstechnologie und Gesellschaft. Eine Einführung in die Angewandte Informatik. Darmstadt; Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993
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  • 14 Böhle F, Brater M, Maurus A. Pflegearbeit als situatives Handeln.  Pflege. 1997;  10 18-22
  • 15 Foucault M. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main; Suhrkamp 1994
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  • 17 Richter D. EDV-Einsatz in der Pflege. Ein Problemaufriss.  Pflege. 1997;  10 10-29
  • 18 Remmers H. Pflegerisches Handeln. Wissenschafts- und Ethikdiskurse zur Konturierung der Pflegewissenschaft. Bern; Huber 2000

1 Clinical Pathways sind festgeschriebene Regeln zur Behandlung bestimmter Krankheiten und Verletzungen. Bis dato galt zumindest formal die Behandlungsfreiheit der Ärzte. Sie konnten im Rahmen des Common Sense der Wissenschaft über die Therapie entscheiden. Dies wird mit der Einführung der Clinical Pathways entscheidend eingeschränkt.

2 Diese Betrachtungsweise hat idealtypischen Charakter und dichotomisiert, wo durchaus Spektren vorhanden sind.

3 Qualitätsmanagement wird quantitativ betrieben und eben nicht in Denken von Qualitäten.

4 Das Beispiel ist dem Artikel von Wagner [12] entnommen.

5 Foucault [16] beschreibt die Idee, v. a. in der Strafjustiz, die Gefängnisse so zu bauen, dass jeder Gefangene jederzeit beobachtet werden kann, ohne dass der Gefangene selber bemerkt, ob er beobachtet wird. Damit muss der Wärter gar nicht mehr immer alles beobachten, die potenzielle Möglichkeit, dieses immer tun zu können, ohne dass der Delinquent weiß, wann dies geschieht, reicht aus, um deviantes Verhalten zu vermeiden. Die Folgen einer solchen Praxis auf den beobachteten Menschen hat Sartre beschrieben und wurden glänzend aufgearbeitet bei Honneth. Der Mensch wird durch diesen Blick zum Objekt und seiner kontingenten Handlungsmöglichkeiten beraubt. Sein Vermeiden von deviantem Verhalten endet in stereotypen Handlungsmustern, die im Sinne des Handelnden am ehesten geeignet sind, eben nicht in den Blick zu kommen. Für die Krankenpflege, für die lebendige Interaktion mit dem kranken Menschen an erster Stelle stehen sollte, ist dies eine albtraumhafte Vorstellung und mit Sicherheit kontraproduktiv im Sinne einer fürsorgenden und advokatorischen Haltung. Belastend auch im Sinne der Patientenversorgung: Die Patienten kommen in den Blick der Ärzte und werden gerade dadurch vom Menschen zum Patienten. Dadurch könnten Ressourcen verschüttet werden.

6 Dies kann man nur bedingt vorwerfen: Wenn Krankenhäuser als Wirtschaftsbetriebe arbeiten sollen, kann man ihnen nicht vorhalten, dass sie genau dies tun.

Pascal Lubin

Imsumstraße 17

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Email: plubin@uni-bremen.de

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