Z Sex Forsch 2005; 18(2): 164-184
DOI: 10.1055/s-2005-836779
Dokumentation

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Lust - Funktion - Verstörung

Zur aktuellen Präsentation sexueller Probleme[1] Margret Hauch1
  • 1Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
01 August 2005 (online)

Wer sexuelle Erfahrungen macht, macht diese stets in einem sozialen und kulturellen Kontext. Sowohl alltägliche sexuelle Erlebnisse als auch sexuelle Probleme entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern sind kulturell eingebunden und ständigen Veränderungen unterworfen. In diesem Vortrag beschäftige ich mich mit dem Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Wandel der Sexualität und den Veränderungen in der Wahrnehmung sexueller Probleme. Dazu greife ich auf zweierlei Datenquellen zurück.

Zunächst möchte ich einige empirische Ergebnisse aus einer aktuellen nichtklinischen Studie präsentieren, die anhand des Vergleichs dreier Generationen den Wandel von Beziehungsbiographien und Sexualverhalten in den letzten drei Jahrzehnten untersucht hat. Diese Ergebnisse sollen hier als Hintergrund dienen, vor dem ich dann die Veränderungen klinisch relevanter Störungen bei unseren Patientinnen und Patienten erläutern werde, die sich in der Dokumentation unserer poliklinischen Arbeit am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie abbilden.

Dieser Vortrag ist in vier Abschnitte gegliedert:

Im ersten Abschnitt will ich einige Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erläutern, exemplarisch Belege für Veränderungen von Beziehungsformen und Beziehungsbiographien vorstellen und anhand ausgewählter Daten Veränderungen des Sexualverhaltens und vor allem des Geschlechterverhältnisses erörtern. Dieser Abschnitt bezieht sich auf die eben erwähnte Studie zu „Beziehungsbiographien im sozialen Wandel”, also auf eine nichtklinische Bevölkerungsstichprobe.

Im zweiten Abschnitt geht es dann um klinische Erscheinungsbilder. Über einen Zeitraum von knapp drei Jahrzehnten wurde am Institut für Sexualforschung des Universitätsklinikums Hamburg das Vorkommen sexueller Funktionsstörungen dokumentiert. Dabei zeigte sich, dass parallel zum allgemeinen Wandel von Beziehungen und Sexualität zum Teil massive Veränderungen klinisch relevanter sexueller Probleme stattgefunden haben. Bestimmte Symptomatiken, wie beispielsweise sexuelle Lustlosigkeit, nehmen deutlich zu, andere, wie die in den 70er-Jahren noch häufig diagnostizierte Orgasmusstörung, treten in den Hintergrund. Bei der Interpretation dieser Veränderungen greife ich auf einzelne Ergebnisse aus der nichtklinischen Stichprobe zurück.

Im dritten Abschnitt werde ich mich dann kritisch mit der Frage nach der Verbreitung sexueller Störungen befassen. Die gegenwärtig sowohl in wissenschaftlichen wie auch in populärwissenschaftlichen Diskussionen zu beobachtende vorschnelle Gleichsetzung von sexuellen Klagen mit klinisch diagnostizierten sexuellen Störungen scheint mir einer undifferenzierten Pathologisierung besonders weiblicher Sexualität Vorschub zu leisten.

Im vierten Abschnitt habe ich abschließend einige Überlegungen dazu formuliert, welche Implikationen die vorgestellten Ergebnisse für die klinische und therapeutische Praxis haben.

1 Überarbeitete Fassung des auf der 2. Klinischen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 24. bis 26. September 2004 in Münster gehaltenen Vortrags

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1 Überarbeitete Fassung des auf der 2. Klinischen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 24. bis 26. September 2004 in Münster gehaltenen Vortrags

2 Weitere Informationen zur Studie sowie eine Literaturliste mit Veröffentlichungen, die sich eingehend auch mit der Methodik beschäftigen, finden sich auf der Homepage http://www.beziehungsbiographien.de.

3 Für neuere Ergebnisse zum Zusammenhang von Lusterleben und physiologischer Reaktion vgl. Both et al. im nächsten Heft dieser Zeitschrift

4 Ein differenziertes Bild verschiedener Bedeutungen des Orgasmus in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen aus der Sicht von jungen Frauen zeichnet die qualitative Studie „Lebensthema Sexualität” von Renate-Berenike Schmidt [38]. Zur Psychodynamik des Orgasmus bei der Frau vgl. [21] [22].

5 Da die Problemfelder „vorzeitiger” und „ausbleibender Samenerguss” in unserer Statistik keine größeren Veränderungen aufweisen, will ich hier auch nicht näher auf sie eingehen.

6 Blockbuster sind Pharmazeutika, die im Jahr mehr als eine Milliarde US-Dollar Umsatz erwirtschaften.

7 Eine umfassende Übersicht über den Forschungsstand zur Behandlung sexueller Dysfunktionen von Männern mit Sildenafil (Viagra®) bietet ein Aufsatz von Volkmar Sigusch [41]. Die Behandlungsergebnisse von Frauen werden im Unterkapitel „Fehlanzeigen” resümiert. Neuere Studien über die Erfolge medikamentöser Behandlung sexueller Funktionsstörungen von Frauen werden laufend aktualisiert und unter www.fsd-alert.org veröffentlicht.

Dipl.-Psych. Margret Hauch

Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistr. 52

20249 Hamburg

Email: hauch@uke.uni-hamburg.de

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