B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2005; 21(2): 51
DOI: 10.1055/s-2005-836461
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

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H. Deimel
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Publication Date:
19 April 2005 (online)

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

mit dem Schwerpunktthema Alkoholabhängigkeit haben wir einen Krankheitskomplex in den Mittelpunkt dieses Hefts gestellt, in dem sich im letzten Jahrzehnt eine Reihe von Veränderungen ergeben hat. Diese liegen u. a. in der Verkürzung der stationären Behandlungszeiten, der Verringerung psychotherapeutischer Arbeit zugunsten einer eher psychoedukativen Ausrichtung, der Erhöhung der soziotherapeutischen Angebote zur Verbesserung der Wiedereingliederungschancen in Arbeit und Beruf oder in der verstärkten Nutzung ambulanter Therapie und Rehabilitation. Veränderungen finden sich jedoch auch in der Gruppe der Suchtkranken selbst. So steigt der Anteil jugendlicher und junger Erwachsener mit Alkoholabhängigkeit; besonders verbreitet ist diese bei jugendlichen Migranten, Aussiedlern und Obdachlosen oder bei arbeitslosen Jugendlichen und Berufsausbildungsabbrechern. Bedeutsam ist zudem der wachsende Anteil an Begleit- und Folgeerkrankungen bzw. (psychiatrischen) Doppeldiagnosen auch bei Betroffenen in späterem Lebensalter. Etwas überspitzt formuliert lässt sich feststellen, dass die zunehmende Vernetzung unserer Welt sich auch in der vermehrten Vernetzung der Krankheitsbilder widerspiegelt.

Die therapeutische Arbeit mit dieser Klientel ist nicht nur nach Aussagen vieler langjähriger Mitarbeiter in der Suchtkrankenarbeit schwieriger und belastender geworden. Zudem bedürfen die bisher gültigen Behandlungssysteme und -ziele aufgrund der Unterschiedlichkeit der psychosozialen, familiären, beruflichen und ökonomischen Voraussetzungen der Betroffenen einer Differenzierung und Revidierung. Das wird beispielsweise an der teilweise polemisch geführten Diskussion um das Abstinenzgebot als oberstes Rehabilitationsziel sichtbar. Hier ist es legitim, auch Ansätze wissenschaftlich begleitend zu überprüfen, die das Abstinenzgebot bei bestimmten Suchtkranken relativieren, um den therapeutischen Kontakt zu diesen Klienten nicht abbrechen zu lassen oder um ihnen mehr Zeit zur Entwicklung der persönlichen Ressourcen und Einsichten zur Verfügung zu stellen, die unter Umständen ein eigenmotiviertes abstinentes Leben ermöglichen. Insofern wird mit der derzeitigen Diskussion um das Abstinenzgebot auch ein Perspektiv- und Paradigmenwechsel vorgenommen.

„Sucht hat immer eine Geschichte. Diese fängt nicht mit der Einnahme einer Substanz an und hört nicht mit deren Absetzen auf”. Dieser bekannte Leitsatz in der Suchtkrankenrehabilitation verweist auf die Bedeutung von Prävention, von vernetzten, abgestimmten und qualifizierten Therapie- und Rehabilitationsangeboten sowie von wohnortnahen Nachsorgeangeboten. Bewegungs- und sporttherapeutische Angebote sind in diesen Systemen bisher schwerpunktmäßig vor allem im stationären Bereich integriert. In der Suchtprävention oder der Nachsorge hingegen sind derartige Angebote allenfalls marginal vorhanden. Es besteht sowohl versorgungs- wie auch forschungsmäßig ein großer Handlungsbedarf, um hier die Chancen von Bewegungs- und Sporttherapie zu verbessern und zu evaluieren. Das gilt auch im klinisch-stationären Bereich für die oben genannte Gruppe der jugendlichen Alkoholabhängigen oder für die Klientengruppe mit Doppeldiagnosen, in denen ebenfalls großer Forschungsbedarf besteht. Insgesamt gibt es auf dem Feld der Suchterkrankungen noch viel zu tun!

Was darüber hinaus sichtbar wird, ist die Notwendigkeit von hoher fachspezifischer Qualifikation und Kompetenz im Umgang mit dieser Klientel. Aus diesem Grunde stellen wir in diesem Heft das Weiterbildungs-Curriculum des DVGS für die Spezialisierung Psychiatrie, Psychosomatik und Suchtbehandlung (PPS) ausführlich vor (vgl. S. 86 ff). Wir sind sicher, dass diese Zusatzqualifikation den gestiegenen Anforderungen in diesem Feld gerecht wird sowie entscheidend zur professionellen und qualifizierten therapeutischen Arbeit beiträgt.

Ihr Hubertus Deimel

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