Z Sex Forsch 2005; 18(1): 1-4
DOI: 10.1055/s-2005-836437
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Provokation Sexualität

J. C. Aigner
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Publication Date:
14 April 2005 (online)

Im Vorwort zur vierten Auflage der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” (aus dem Jahr 1920) weist Freud auf zwei Probleme hin, mit denen wir auch heute wieder - oder vielleicht immer noch - zu kämpfen haben. Zunächst meint er „mit Befriedigung” feststellen zu können, dass nach den Wirrnissen des Krieges das Interesse für die Psychoanalyse „in der großen Welt unbeschädigt geblieben” sei [1: S. 45]. Das gilt jedoch nicht für alle Teile der psychoanalytischen Lehre und Forschung. Zwar seien die „rein psychologischen Aufstellungen und Ermittlungen” über das Unbewusste, die Verdrängung, die Symptombildung etc. selbst bei „prinzipiellen Gegnern” gewissermaßen anerkannt worden. Für das „an die Biologie angrenzende Stück der Lehre”, womit er die Sexualtheorie meinte, treffe das aber nicht zu. Sie rufe „noch immer unverminderten Widerspruch hervor und hat selbst Personen, die sich eine Zeit lang intensiv mit der Psychoanalyse beschäftigt hatten, zum Abfall von ihr und zu neuen Auffassungen bewogen”, wodurch die Bedeutung der Sexualität im Rahmen der sich entwickelnden Psychologie des Unbewussten wieder eingeschränkt werden sollte [1: S. 45].

Einen Absatz später weist Freud auf mögliche Missverständnisse hin, die - neben der kulturell verankerten Geringschätzung der Sexualität - diese Ablehnung der Sexualtheorie mit bedingen könnten, und erwähnt den Vorwurf des „Pansexualismus”. Dieser gehe von einem viel zu engen, die charakteristische Erweiterung des psychoanalytischen Ansatzes nicht nachvollziehenden Sexualitätsbegriff aus und mache der Psychoanalyse den „unsinnigen Vorwurf”, „sie erkläre ‚alles’ aus der Sexualität” [1: S. 46]. Schließlich ermahnt Freud diese kurzsichtigen Kritiker, sich die Nähe des erweiterten Sexualitätsbegriffes der Psychoanalyse zum „Eros des göttlichen Plato” [1: S. 46] zu vergegenwärtigen. Ich meine, dass diese psychoanalytische Auffassung auch heute noch nicht in den Köpfen der allermeisten KritikerInnen, aber auch nicht in denen vieler psychologisch-therapeutischer ExpertInnen Platz gegriffen hat. Auch die Sexualwissenschaft selbst (oder Teile von ihr) gebärdet sich so, als handle es sich bei der Sexualität um etwas, das sich zwischen Gürtellinie und Oberschenkeln abspielt, und sie folgt damit jener restriktiven Sexual-(Un-)Kultur, die sexualverneinenden Gesellschaften wie auch unserer inhärent zu sein scheint.

Hat man den historisch-gesellschaftlichen Hintergrund der Veröffentlichung dieser Schrift im Auge, dann wird sowohl das Pionierhafte an Freuds „sexualwissenschaftlichem Durchbruch” als auch die bemerkenswerte Schärfe des Blicks auf die Entwicklung der Sexualität quer durch die Biografie eines Menschen deutlich: Schon die Beschäftigung mit kindlichen Sexualäußerungen quasi von Geburt an, die Betonung der Säuglingsmasturbation und erst recht die Postulierung einer „polymorph-perversen Veranlagung” sind Theoreme, die auch heute vielerorts noch nicht friktionsfrei diskutierbar sind. Zu Freuds Zeiten muss die Proklamierung derartiger Thesen - noch dazu quer zur vorherrschenden naturwissenschaftlich orientierten Medizin und Psychiatrie - eine ungeheure Herausforderung an Sitte und Moral gewesen sein.

Mutig muss es fürwahr auch gewesen sein, in Zeiten viktorianischer Wiener Doppelmoral die „Anlage zu den Perversionen [als] die ursprüngliche allgemeine Anlage des menschlichen Geschlechtstriebs” zu bezeichnen, aus der heraus „das normale Sexualverhalten” im Verlauf der Entwicklung und Reifung entstehe [1: S. 134]. Dass Freud die Perversion in die Nähe der durchschnittlichen Sexualität des Kulturmenschen rückt, ist eine gewagte Vision: Erst viel später haben Sexualwissenschaftler - allen voran Robert Stoller [2] - den Zusammenhang von sexueller Erregung und Perversion (wenigstens in Spuren) und die grundlegende Bedeutung des perversen Mechanismus (als Überwindung von Traumata in einer restriktiven, geschlechtsverneinenden Kultur) psychodynamisch aufgezeigt.

Etwas, was PsychoanalytikerInnen und psychoanalytische Institutionen noch bis vor kurzem plagte, war die Homosexualität und der Umgang mit ihr bei der Zulassung von Homosexuellen zur Ausbildung. Die Haltung des Schöpfers ihrer Wissenschaft macht den spröden Umgang der psychoanalytischen Community mit der Homosexualität nicht verständlicher, findet sich doch in einem Zusatz Freuds aus dem Jahr 1915 die Bemerkung: „Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen” [1: S. 56, Fn. 1]. Im Sinne der Postulierung einer grundsätzlichen bisexuellen Objektwahl-Fähigkeit schreibt Freud - sicher zur Empörung der ihn umgebenden homophob agierenden Kollegenschaft und Gesellschaft - weiter: „Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit” [1: ebd.]. Freud stellt damit klar, dass ohne die Annahme einer bisexuellen Anlage das Verständnis der Sexualität von Mann und Frau nicht möglich sei - auch etwas, das ihm und der Psychoanalyse damals mit Sicherheit keine Freunde eingebracht hat.

Neben den provokanten Thesen zur menschlichen Sexualentwicklung besticht die heuer 100 Jahre alt werdende Schrift auch durch einige psychologisch und anthropologisch bedeutsame Funde. Dazu gehört das Postulat des „zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung” [1: S. 105 f, 137 f]: der Umstand also, dass die sexuelle Entwicklung durch die Latenz unterbrochen und unter geänderten psychosozialen Umständen in der Pubertät neu aufgelegt wird. Das erschien Freud besonderer Beachtung würdig, weil es dadurch zu einer Neugestaltung der Objektbeziehungen kommt, die wiederum die Entwicklung neuer kultureller Beziehungsmuster ermöglicht. Die zweizeitige Objektwahl, so schreibt Freud, „scheint eine der Bedingungen für die Eignung des Menschen zur Entwicklung einer höheren Kultur, aber auch für seine Neigung zur Neurose [bei misslingender Lösung] zu enthalten” [1: S. 137].

Auch die von Freud postulierte Dynamik zwischen hereditär-konstitutionellen und akzidentellen Faktoren der sexuellen und psychischen Entwicklung ist für eine Schrift aus dem Jahr 1905 beeindruckend. Freud hebt entgegen der damals tonangebenden psychiatrischen Welt die fundamentale Bedeutung der psychischen Verarbeitung kindlicher Erlebnisse hervor, ohne allerdings konstitutionelle Faktoren gänzlich zu negieren, und setzt beide in ein für damalige Zeiten bemerkenswertes Wechselverhältnis, das er unter dem Begriff der „Ergänzungsreihe” beschreibt: „Das konstitutionelle Moment muss auf Erlebnisse warten, die es zur Geltung bringen, das akzidentelle bedarf einer Anlehnung an die Konstitution, um zur Wirkung zu kommen” [1: S. 142]. Die Bedeutung dieser Dynamik wird noch weiter differenziert, wenn Freud die konstitutionellen und die (alten) akzidentellen Faktoren aus Kindheitserlebnissen zusammenfassend als „dispositionelle” den „definitiven Momenten”, also späteren traumatischen Ereignissen, gegenüberstellt, die die früheren Traumata erst pathogen zur Geltung bringen können. Damit ist der Weg frei für eine Theorie (nicht nur) sexueller Entwicklungsverläufe, die aus meiner Sicht für das psychodynamische Verständnis neurotischer Entwicklungen bis heute grundlegend sind.

Die Parallelität oder Synchronizität fundamentaler sexueller Antriebe und allgemein persönlichkeitsbildender Entwicklungen scheint mir eines der Hauptverdienste der „Drei Abhandlungen” zu sein: „Was wir den ‚Charakter’ eines Menschen heißen, ist zum guten Teil mit dem Material sexueller Erregungen aufgebaut und setzt sich aus seit der Kindheit fixierten Trieben, aus durch Sublimierung gewonnenen und aus solchen Konstruktionen zusammen, die zur wirksamen Niederhaltung perverser, als unverwendbar erkannter Regungen bestimmt sind” [1: S. 141]. Damit ist auch der ewige Kampf zwischen Trieb(verzicht) und Kultur als inhärenter Bestandteil der menschlichen Entwicklung umrissen, und je nach Art des Umgangs mit den jeweils pervers genannten Regungen - der „wirksamen Niederhaltung” - werden schließlich auch Durchlässigkeit oder pathogenes Potenzial von Triebunterdrückung gesellschaftlich sichtbar.

Freud ist mit dieser Schrift ein mutiger, zukunftsweisender Wurf gelungen. Seine wissenschaftliche Betrachtung der menschlichen Sexualentwicklung, die quer zur herrschenden Moral nach Sinn und Funktion der sexuellen Regungen für die gesamte Charakterentwicklung fragte, ist wegweisend, wenn wir heute in psychodynamisch verstandenen Therapien sexueller Störungen immer wieder nach Sinn und Bedeutung, nach der Verzahnung sexueller Symptome mit der Persönlichkeits- und Charakterentwicklung fragen.

Aus Sicht der psychoanalytischen und psychotherapeutischen „Kultur”, jedenfalls in Österreich, wäre zu sagen, dass die „Drei Abhandlungen” heute nicht weniger notwendig erscheinen als vor 100 Jahren: Zu randständig wird das Thema Sexualität heute noch in den meisten psychotherapeutischen Ausbildungen und Fachspezifika positioniert, zu sehr gilt Sexualität und gelten sexuelle Symptome nach wie vor als Spezialprobleme, die von SpezialistInnen behandelt werden sollen, anstatt sie als Teil und Ausdruck allgemein menschlicher Entwicklungsproblematik zu verstehen.

  • 1 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Studienausgabe, Bd. 5. 6. Aufl. Frankfurt/M.: Fischer, 1989; 37-145
  • 2 Stoller R J. Perversion. Die erotische Form von Hass. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1979