ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2004; 113(9): 361
DOI: 10.1055/s-2004-835108
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Im Protestfieber

Cornelia Gins
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
30. September 2004 (online)

Deutschland hatte im Sommerloch ein neues Thema, und ausnahmsweise ging es nicht um die Reform der Sozialsysteme und deren Finanzierbarkeit. Es ging darum, ob nicht doch Schifffahrt lieber mit 2 statt mit 3 f geschrieben werden sollte. Erstaunlich ist nur, dass nach mehr als 5-jähriger „Laufzeit” dieser kulturbürokratischen Regelwut der Sturm der Entrüstung plötzlich nicht mehr zu bremsen war. „Bild” als Sprachrohr des gesunden Volksempfindens hatte sich wie immer an die Spitze der Bewegung gesetzt, aber auch renommierte Blätter wie die Süddeutsche Zeitung und der Spiegel waren zügig auf den ach so medienwirksamen Zug aufgesprungen.

Mit der bundesweiten Boykottandrohung mischt sich die Presse in das politische Tagesgeschäft, was in der Schärfe doch recht ungewöhnlich ist. Darf guter Journalismus dies überhaupt? Nun, was guter oder schlechter Journalismus ist, darüber lässt sich trefflich philosophieren. Der einstige hehre Anspruch der medialen Vermittlung und kritischen Begleitung der Politik ist längst einer wirksamen Inszenierung der Fakten gewichen. Die Ärzteschaft kann davon ein Lied singen. Las ich doch kürzlich im Wirtschaftsteil in einer renommierten Berliner Tageszeitung, dass die Zahnärzte mit ihrem Engagement an der Börse mitverantwortlich sind für den steigenden Ölpreis. Auch hat sich die Presse sichtlich schwer getan, die Neuregelungen im Zahnersatz so verständlich zu machen, dass nicht jeder zweite Patient glauben musste, im nächsten Jahr alles aus der eigenen Tasche zu finanzieren. Aber das Thema hat sich ja nun nach der allgemeinen Hysterie ohnehin erledigt.

Politik und Medien bedingen ohne Frage einander. Doch die Spielregeln haben sich offensichtlich geändert. Die gegenseitige kooperative Abhängigkeit scheint zunehmend einem Machtkampf zu weichen. Strategien der gegenseitigen Überlistung gehören zum Tagesgeschäft. Medien und Politik haben gelernt sich zu inszenieren. Die nun vermehrt gesteuerten Informationen aus den PR-Agenturen der Politik sowie die Allgegenwart der Gerichte machen es den Journalisten allerdings auch nicht gerade einfach, ihren Informationsauftrag zu erfüllen. Mit dem Ergebnis, dass die politische Kommunikation mit dem Bürger auf der Strecke bleibt. Die Proteste um Hartz IV und die nun voraussichtlich gescheiterte Reform beim Zahnersatz sind ein leuchtendes Beispiel dafür.

Die Medien haben die Politik zu einem Teil der Unterhaltungsindustrie gemacht. Gut inszenierte Talkshows und schrill platzierte Exklusivmeldungen sind heutzutage die Informationsbasen der Bürger. Ein zur Tatsache geadeltes Gerücht wird plötzlich zur virtuellen Wirklichkeit und dadurch ein unter Umständen nur noch schwer zu kontrollierender politischer Selbstläufer. Wir Mediziner fühlen uns an unseren berufsethischen Eid gebunden. Scheint anderswo wohl nicht so üblich zu sein.

Dr. med. dent. Cornelia Gins

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