Psychiatr Prax 2004; 31(6): 319
DOI: 10.1055/s-2004-832266
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Versuch einer Soziologie psychischer Störungen in der Ära der Biowissenschaften

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Publication Date:
25 August 2004 (online)

 

Der folgende Text ist ein Hinweis auf ein wichtiges Buch. Dirk Richters Psychisches System und soziale Umwelt ist der erste umfassende soziologische Versuch der Darstellung und der Auseinandersetzung mit den psychischen Störungen und der Psychiatrie in deutscher Sprache. Überhaupt waren psychiatriesoziologische Veröffentlichungen hierzulande in den vergangenen drei Jahrzehnten Raritäten. Das Buch ist die Habilitationsschrift des Verfassers, dessen Biografie ihn für ein solches Unternehmen prädestiniert: Krankenpflege, Soziologiestudium, Tätigkeit in der Psychiatrie, eine ganze Reihe empirischer Arbeiten zur Sozialpsychiatrie und Psychiatriesoziologie. Die vorliegende Veröffentlichung allerdings ist eine theoretische Studie, die sich Niklas Luhman und der Systemtheorie verpflichtet weiß (richtig systemtheoretisch wird es allerdings erst im Schlusskapitel).

Richter geht den klassischen soziologischen Fragen nach: Sind psychische Krankheiten und psychiatrische Diagnosen soziale Konstrukte? Interniert die Psychiatrie als totale Institution abweichendes Verhalten? Ist ein niedriger Sozialstatus Ursache psychischer Störungen? Im Grunde sind diese Fragen Schnee von gestern. Aber es ist richtig und wichtig, dass er ihnen nachgeht. Schließlich sind sie die Hauptursache für den anhaltenden horror soziologiae der Psychiatrie.

Im zweiten Teil wendet sich Richter modernen, um nicht zu sagen Zeitgeistthemen zu: biopsychosoziales Modell, Stress, psychische Störungen und Struktur der modernen Gesellschaft.

Wie einleitend festgehalten, es ist ein wichtiges Buch; und ich wünsche Richter von ganzem Herzen, dass er dabei bleiben kann. Soweit ich das überblicke, ist er der einzige Soziologe, der die Wiederannäherung von Psychiatrie und Soziologie vorantreiben kann - und das wäre für unser Fach unendlich wichtig.

Zu seiner Arbeit aber habe ich eine Fülle kritischer Einwände; das kann auch gar nicht anders sein. Diese werden Gegenstand einer ausführlichen späteren Auseinandersetzung sein; und ich hoffe, dass die wenigen anderen soziologisch versierten Psychiater wenigstens zum Teil mit einem kritischen, konstruktiven Dialog mit Dirk Richter einsteigen. Unabhängig davon die Mahnung: das Buch sollte in keiner psychiatrischen Klinikbibliothek und in keiner soziologischen Institutsbibliothek fehlen.

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