Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73(10): 596-604
DOI: 10.1055/s-2004-830292
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Interventionen zwischen Gehirn und Geist: Eine ethische Analyse der neuen Möglichkeiten der Neurowissenschaften

Intervening Between Brain and Mind: An Ethical Analysis of the New Possibilities of the NeurosciencesM.  Synofzik1 , 2
  • 1Institut für Ethik und Geschichte in der Medizin, Universität Tübingen
  • 2Abteilung für Kognitive Neurologie, Hertie Institut für Klinische Hirnforschung, Tübingen
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Publikationsdatum:
20. Juni 2005 (online)

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Zusammenfassung

Der rasante Fortschritt in den Neurowissenschaften eröffnet neue, bislang nur schwer einschätzbare Forschungs- und Interventionsmöglichkeiten. Aufgrund der weitreichenden medizinischen, sozialen und anthropologischen Bedeutung werfen sie neuartige ethische Fragen hinsichtlich ihrer Zielsetzung und Legitimität auf. Die in dem Aufsatz vorgestellte „neuroethische Bewertungsmatrix” soll es ermöglichen, eine ethische Orientierung bei diesen Fragen zu gewinnen - sowohl im wissenschaftlichen und klinischen Diskurs als auch im praktischen Vorgehen. Ihre Anwendbarkeit wird für die folgenden, zentralen neuroethischen Problembereiche gezeigt: Neurowissenschaftliche Forschung, Hirngewebstransplantationen, Psychopharmakologie, bildgebende Verfahren (Neuroimaging), Neuro- und Psychochirurgie und Allokation in den Neurowissenschaften. Es zeigt sich, dass die vorgeschlagene neuroethische Bewertungsmatrix eine systematische und zugleich praktisch anwendbare Möglichkeit bietet, einen normativen Orientierungsrahmen für Neurowissenschaften und Neurologie zu gewinnen.

Abstract

The fast progress in neuroscience opens up unprecedented opportunities of research and intervention. Due to their far-reaching medical, social and anthropological implications they raise new ethical issues regarding their goals and legitimacy. The “neuroethical evaluative matrix”, which is presented in this article, provides an ethical orientation in neuroscientific research and clinical interventions. Its practicability is demonstrated for the following central neuroethical fields: neuroscientific research, neural grafting, psychopharmacology, neuroimaging, neuro- and psychosurgery, and allocation in neuroscience. It will turn out that the neuroethical matrix provides a systematic and practical possibility to obtain a normative reference frame in neuroscience and neurology.

Literatur

1 Der Begriff „Neuroethik” wurde im Mai 2002 auf einer Konferenz zu ethischen Fragen der Neurowissenschaften geprägt, die an der US-amerikanischen Stanford Universität stattfand. Durch den Kolumnisten und Vorsitzenden der amerikanischen Dana-Stiftung für neurowissenschaftliche Forschung, William Safire, gewann der Begriff eine zunehmende Verbreitung [4] [5]. Dabei ist zu beachten, dass in dieser Prägung der Begriff „Neuroethik” nicht nur die Ethik der Neurowissenschaften (und schon gar nicht nur die Ethik der klinischen Neurologie, vgl. [6]) umfasst, sondern auch die Neurowissenschaften der Ethik (z. B. die neuronalen Grundlagen unserer Personalität, Moralität, Verantwortlichkeit, etc.). Da letztere Bedeutung jedoch auf ein völlig anderes Fragengebiet abhebt, z. B. nach den neuronalen Grundlagen unserer Moral [7] [8], ist es missverständlich, sie unter den Begriff „Neuroethik” zu subsumieren.

2 Diese vier Prinzipien müssen bei bestimmten bereichsethisch spezifischen Überlegungen um weitere Prinzipien teilweise ergänzt werden. In der folgenden Bewertungsmatrix sind z. B. noch die Prinzipien der „Selbstwerthaftigkeit des Menschlichen und Natürlichen” und der „Zweck-Mittel-Rationalität” hinzugefügt worden. Eine metaethische Diskussion, warum dieses notwendig ist und welche Beziehung zwischen den einzelnen Prinzipien besteht, kann und soll in dem vorliegenden Aufsatz nicht geleistet werden. Der philosophisch und ethisch interessierte Leser sei auf Literatur verwiesen, wo dieses genauer dargelegt wurde [21]).

3 Hier wird „Zweck-Mittel-Rationalität” in einem sehr umfassenden Sinn gemeint, nämlich als allgemeine Ebene ethischer Überlegungen, der sich verschiedene Kriterien und Prinzipien zuordnen lassen.

4 Für eine eher inhaltliche Vertiefung der Problembereiche sei auf die entsprechende Literatur verwiesen (z. B. [6] [15] [17] [18]).

5 Neurochirurgie und Psychochirurgie werden hier zusammengefasst, da die zugrunde liegende Unterscheidung auf einer cartesianischen Unterscheidung beruht, die einen ontologischen Dualismus zwischen Geist und Gehirn behauptet. Angesichts des hohen Plausibilitätsgrades naturalistischer Theorien des Geistes in der gegenwärtigen Philosophie ist diese Unterscheidung jedoch sehr fragwürdig geworden (vgl. [11]). Auch aus pragmatischen Gründen erscheint es fragwürdig, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Die Grenzen sind keineswegs so klar, wie es die Unterscheidung zunächst suggeriert: Ist z. B. die Tiefhirnstimulation bei PVS-Patienten eher ein „psychisch-kognitiver” oder aber ein „neurologischer” Therapieversuch?

6 Neurochirurgie und Psychochirurgie werden hier zusammengefasst, da die zugrunde liegende Unterscheidung auf einer cartesianischen Unterscheidung beruht, die einen ontologischen Dualismus zwischen Geist und Gehirn behauptet. Angesichts des hohen Plausibilitätsgrades naturalistischer Theorien des Geistes in der gegenwärtigen Philosophie ist diese Unterscheidung jedoch sehr fragwürdig geworden (vgl. [11]). Auch aus pragmatischen Gründen erscheint es fragwürdig, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Die Grenzen sind keineswegs so klar, wie es die Unterscheidung zunächst suggeriert: Ist z. B. die Tiefhirnstimulation bei PVS-Patienten eher ein „psychisch-kognitiver” oder aber ein „neurologischer” Therapieversuch?

Matthis Synofzik

Institut für Ethik und Geschichte in der Medizin

Schleichstrasse 8

72074 Tübingen

eMail: M.Synofzik@gmx.de