Notfall & Hausarztmedizin (Hausarztmedizin) 2004; 30(4): B 171
DOI: 10.1055/s-2004-829611
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Allergien - Die moderne Epidemie

Gerhard Schultze-Werninghaus1
  • 1Bochum
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Publication Date:
17 June 2004 (online)

Ein Drittel der Bevölkerung leidet an allergischen Krankheiten der Haut, der Atemwege und des Gastrointestinaltraktes. Damit stehen Allergien unbestreitbar an Platz 1 aller chronischen Erkrankungen. Die dramatische Zunahme allergischer Krankheiten in den vergangenen Jahrzehnten ist sowohl für die Neurodermitis, als auch für Rhinitis und Asthma überzeugend belegt und dies weltweit. Allergisch sein heißt nicht in jedem Fall schwer krank zu sein. Mehr und mehr wird aber klar, dass es sich auch bei einem „simplen” Heuschnupfen oder einer Neurodermitis keineswegs um Bagatellerkrankungen handelt, lässt sich doch zeigen, dass das immunologische Geschehen den gesamten Organismus, einschließlich des Knochenmarks einbezieht.

Die Zunahme der Allergien hat naturgemäß vor allem drei Fragen aufgeworfen:

Was ist die Ursache? Gibt es Möglichkeiten der Allergieprävention? Kann durch geeignete Therapien die Prognose verbessert werden?

Die Epidemie allergischer Krankheiten ist zeitgleich mit dem Rückgang der traditionellen Epidemien, wie der Tuberkulose und Parasitosen, mit dem zunehmenden Einsatz von Impfungen, Antibiotika und Desinfektionsmitteln eingetreten - daher ist die „Hygiene-Hypothese” zur Zeit Favorit unter den Interpretationsmöglichkeiten der zunehmenden Allergieprävalenz. Das Immunsystem sucht „neue Feinde”, das heißt harmlose Allergene aus Pollen, Milben und Tieren, seit die historischen Feinde - wie Viren, Bakterien und Parasiten - ihre Bedeutung verlieren. Befunde aus ländlichen Regionen scheinen dies zu bestätigen, ist dort die Allergieprävalenz dann besonders niedrig, wenn noch tägliche Kontakte zum Stall bestehen, insbesondere während Schwangerschaft und früher Kindheit. Die definitive Antwort steht aus.

Die Allergieprävention - im Sinne der Primärprävention, um Allergien zu verhindern, beziehungsweise im Sinne der Sekundärprävention, um Krankheitsentstehung und Beschwerden bei sensibilisierten Menschen zu unterdrücken - ist problematisch. Nach zahlreichen Studien zu den Präventionsmöglichkeiten bleiben wenige gesicherte Empfehlungen, wie die des Stillens zur Primärprävention und der Verwendung von Encasings bei Milbenallergie. Hier sind zahlreiche Fragen offen.

Klar geworden ist, dass konsequentes Handeln, vor allem eine präzise Diagnostik und eine leitliniengerechte Therapie mit Medikamenten und Spezifischer Immuntherapie, zu einer Verhinderung von schwererwiegenden Folgeerkrankungen, wie dem allergischen Asthma und zur Verringerung des Risikos einer Chronifizierung und Progredienz führen kann. Dies ließ sich zeigen für eine Behandlung des atopischen Ekzems mit Antihistaminika, für eine frühzeitige Spezifische Immuntherapie bei allergischer Rhinitis und für die ausreichend hoch dosierte Therapie mit inhalativen Steroiden bei Asthma. Die WHO hat sich in den letzten Jahren an allergologischen Initiativen beteiligt, so an der Forderung nach einem Einsatz der Spezifischen Immuntherapie und nach dem Verständnis der allergischen Rhinitis als Systemerkrankung („ARIA” = Allergic Rhinitis And Its Impact On Asthma). Die Bedeutung einer konsequenten Therapie der allergischen Rhinitis wird deutlich durch eine umfangreiche neuere Untersuchung, aus der hervorgeht, dass die Rhinitistherapie zu einer deutlichen Verringerung von Exazerbationen eines gleichzeitigen Asthmas führen kann.

Die Allergie-Epidemie stellt Wissenschaft, Klinik und Praxis vor Aufgaben, die nur zum Teil gelöst sind. Zu hoffen ist, dass angesichts von Häufigkeit und Bedeutung dieser Erkrankungen die Gesundheitspolitik die richtigen Entscheidungen treffen wird. Allergische Krankheiten sind keine Bagatellen, sondern chronische und in vielen Fällen schwerwiegende Erkrankungen mit Einschränkungen von Arbeits- und Schulfähigkeit, Verringerung der Lebensqualität und der Notwendigkeit zu regelmäßiger ärztlich überwachter Therapie.

Prof. Dr. Gerhard Schultze-Werninghaus

Bochum

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