Z Geburtshilfe Neonatol 2004; 208 - 127
DOI: 10.1055/s-2004-829332

Prader-Willi-Syndrom: Stellenwert des molekulargenetischen Nachweises bei der Abklärung der muskulären Hypotonie im Neugeborenen- und frühen Säuglingsalter

M Wend 1, B Wiebe 1, M Ehlen 1, P Bartmann 1
  • 1Asklepios Klinik St. Augustin (St. Augustin, Deutschland)

Einleitung:

Leitsymptom des Prader-Willi-Syndroms im Neugeborenenalter ist die muskuläre Hypotonie. Die im Kleinkindesalter meist zur Diagnose führenden Symptome Hypogonadismus, Hyperphagie und psychomotorische Retardierung bestehen noch nicht. Nur durch eine molekulargenetische Untersuchung lässt sich beim Neugeborenen oder Säugling die Diagnose eines Prader-Willi-Syndroms stellen.

Fallbeschreibungen:

Kasuistik 1:

Zweites Kind gesunder Eltern, weiblich, Spontangeburt mit 37 + 4 SSW, APGAR 6/9/10, Geburtsgewicht 2170g. Neben einer ausgeprägten Muskelhypotonie mit fehlender Spontanmotorik waren eine hohe Stirn und lange, schmalgliedrige, überstreckbare Finger auffällig. Die Ernährung erfolgte mittels nasogastraler Sondierung. Eine umfangreiche Abklärung hinsichtlich der Muskelhypotonie ergab keinen pathologischen Befund, eine Chromosomenanalyse zeigte einen normalen weiblichen Chromosomensatz. Im EMG fanden sich Zeichen einer Myopathie, eine Muskelbiopsie wurde aufgrund des jungen Alters zunächst verschoben. Diagnosestellung im Alter von 4 Monaten durch molekulargenetischen Nachweis.

Kasuistik 2:

Erstes Kind gesunder Eltern, weiblich, Sectio bei BEL mit 38 + 5 SSW, APGAR 5/8/10, Geburtsgewicht 3190g. Neben morphologischen Stigmata (hohe Stirn, langes Philtrum, hoher Gaumen und schmale Finger) zeigte sich eine generalisierte Muskelhypotonie mit fehlendem Saugreflex. Initiale Diagnostik hinsichtlich Muskelhypotonie ebenfalls ohne Befund, Diagnosestellung im ALter von 3 Wochen mittels molekulargenetischen Nachweis.

Diskussion:

Beim Prader-Willi-Syndrom unterscheiden sich die Symptome in der Neugeborenen- und Säuglingszeit deutlich von denen im weiteren Verlauf. Die Ursache ist in circa 70% eine paternale Deletion, in circa 30% der Fälle eine maternale Disomie im Bereich des Chromosoms 15q11–13. Weitere Ursachen sind Imprintingdefekte (1%) und Translokationen in dieser Region. Eine wichtige Differentialdiagnose, welche in der Abklärung einer muskulären Hypotonie beim Neugeborenen aufgrund der eindeutigen Klinik meist primär mitbedacht wird, ist die spinale Muskelatrophie (SMA). Bei beiden Erkrankungen ist die Diagnose mittels einer molekulargenetischen Untersuchnge einfach und sicher zu stellen. Die Inzidenz beider Erkrankungen ist vergleichbar (SMA 1:10.000, PWS 1:10.000–15.000). In einer tabellarischen Übersicht werden weitere Erkrankungen, die im Rahmen der Abklärung einer muskulären Hypotonie ebenfalls molekulargenetisch nachweisbar sind, aufgelistet.

Mit beiden Fallbeschreibungen wollen wir auf die Notwendigkeit hinweisen, das Prader-Willi-Syndrom frühzeitig in die differentialdiagnostischen Überlegungen bei der Abklärung einer Muskelhypotonie und Trinkschwäche beim Neugeborenen und jungen Säugling mit einzubeziehen.