intensiv 2004; 12(5): 203
DOI: 10.1055/s-2004-813556
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Further Information

Publication History

Publication Date:
16 September 2004 (online)

„Hochstapler” oder „Wie ein falscher Professor die Pflegebranche narrte” - so oder ähnlich lauteten Ende Juni und Anfang Juli die Schlagzeilen in regionalen und überregionalen Medien [1] [2]. Ein rechtskräftiger Strafbefehl des Amtsgerichts Northeim wegen unrechtmäßigen Tragens akademischer Titel und ein weiteres Strafverfahren wegen des Verdachts der Urkundenfälschung sorgen für den ersten großen Skandal in der noch jungen Pflegewissenschaftsszene in Deutschland. Damit reiht sich unsere Disziplin ein in die Reihe der normalen Wissenschaften, denn gefälscht und betrogen wurde in der Wissenschaft von Anfang an und es finden sich darunter Namen von Nobelpreisträgern und der Väter der modernen Wissenschaft wie Galilei und Newton [3]. Ein wesentlicher Unterschied liegt freilich in den Motiven: Die heutigen Betrügereien hängen in der Regel mit dem System der Forschungsfinanzierung zusammen, heute betrügt man des Geldes und/oder der Reputation wegen, früher dagegen tat man es wegen einer Idee. Als Entschuldigung kann beides nicht gelten.

Betroffen ist in diesem aktuellen Fall Klaus-Dieter Neander, Direktor des „Deutschen Instituts für Pflegehilfsmittelforschung und -beratung” in Göttingen. Klaus-Dieter Neander ist in der Pflegeszene seit vielen Jahren bekannt als „Dekubitusforscher”, seine frühen Untersuchungen zu „Eisen und Föhnen” haben Eingang gefunden in Lehr- und Fachbücher und gehören zum Wissensfundament jedes Pflegenden. Mit dem Institut in Göttingen erwarb sich Neander einen Namen als Gutachter von Pflegehilfsmitteln wie Matratzen und Fellen.

Mit dem jetzt aufgedeckten Betrug scheint sich zu bewahrheiten, was hinter vorgehaltener Hand in der Pflegeszene schon seit längerem gemunkelt wurde, dass die akademischen Titel des Klaus-Dieter Neander auf etwas dubiose Art und Weise zustande gekommen sind. Wir wollen uns an irgendwelchen Spekulationen dazu nicht beteiligen, stellen hier aber unmissverständlich klar: Betrug in der Wissenschaft ist kein Kavaliersdelikt und muss neben der strafrechtlichen Ahndung auch wissenschafts-, berufs- und verbandsspezifische Konsequenzen nach sich ziehen. Hier sind die Hochschulen und deren Gremien, Berufsverbände, der Deutsche Verein für Pflegewissenschaft e. V. und auch die wissenschaftlichen Journale gefragt.

Abschließend noch einige allgemeine Gedanken zum Thema. Die sozioökonomischen Strukturen der modernen Wissenschaft begünstigen Fälschungen und Betrügereien. Die Skandale in der Medizin - falsche Abrechnungen, gefälschte und erfundene Daten bei Forschungen bis hin zu Untersuchungen ohne Einwilligung der Patienten - zeigen das in eindringlicher Weise. Während die eher externen Betrügereien oftmals von findigen Jounalisten aufgedeckt werden, verhält es sich bei den internen Fälschungen anders. Diese können in der Regel nur von Fachkollegen, d. h. anderen Forschern, entlarvt werden. Und sie kommen oft deshalb ans Licht, da die Forscher nicht zu den gleichen Ergebnissen gelangen wie die Fälscher. Deshalb halten sich „wahre” Theorien gewöhnlich länger als Fälschungen, da die Untersuchungen, die wissenschaftliche Begrügereien untermauern sollen, nicht wiederholbar sind. In Zukunft wird es allerdings immer schwieriger werden, verlässliche Forschung von Betrug zu unterscheiden. Der wissenschaftliche Fortschritt verkürzt die Lebensdauer des anerkannten Wissens. Damit wird aber die Falsifizierung (Widerlegung) eines Betrugs immer schwieriger und es gibt dann kein empirisches Kriterium mehr zur Unterscheidung (vgl. [3]).

Wichtig erscheint uns deshalb dreierlei:

Das Thema Fälschung und Betrug in der Wissenschaft sollte offen angegangen werden, z. B. im Studium im Rahmen der „Ethik in der Wissenschaft”. Organe zur Kontrolle der wissenschaftlichen Tätigkeit wie das in den USA etablierte „Office of Scientific Integrity” sollten diskutiert und evtl. implementiert werden. Die Bedingungen von Wissenschaft und Forschung in der Gesellschaft sollten diskutiert und überdacht werden. Die Rolle des Wissenschaftlers und Forschers darf nicht die eines „Söldners der Forschung” sein und Wissenschaft darf nicht den Gesetzen des Marktes untergeordnet werden.

Die Herausgeber

Literatur

  • 1 Heflik R. Strafbefehl: Wie ein falscher Professor die Pflegebranche narrte. SPIEGEL ONLINE, 30. Juni 2004. Online im Internet: www.spiegel.de/panorama/0,1518,306518,00.html (entnommen am 1.7.2004). 
  • 2 Achimer Kreisblatt vom 1.7.2004: Hochstapler. 
  • 3 Di Trocchio F. Der große Schwindel. Betrug und Fälschung in der Wissenschaft. Reinbek bei Hamburg; Rowohlt 1999
    >