Viszeralchirurgie 2004; 39(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2004-44925
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

EditorialP. M. Markus1
  • 1Klinik für Allgemeinchirurgie, Göttingen
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Publication Date:
24 February 2004 (online)

Liebe Leserinnen und Leser,

warum ein Heft zur Leistenhernienchirurgie, ist nicht längst alles bekannt und stehen nicht standardisierte OP-Verfahren zur Verfügung?

Unsere Leserumfrage hat genau das Gegenteil ergeben, das Thema Leistenhernie hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Es wurden immer wieder neue Operationsverfahren entwickelt und haben wie zunächst die Reparation nach Bassini, später nach Shouldice oder Lichtenstein oder die endoskopischen Verfahren, ihre Zeit geprägt und große Verbreitung gefunden. Wir möchten Ihnen mit diesem Heft einen Überblick über den aktuellen Stand der Leistenhernienchirurgie geben, verbunden mit einer hoffentlich kritischen Wertung der zzt. gängigen Verfahren. Hierzu haben wir deutschlandweit die Experten zu einem Beitrag eingeladen, die wegweisend die Entwicklung der Leistenhernienchirurgie beeinflussen.

Im Zeitalter der „evidence based medicine” erlauben Sie mir noch einen weiteren Gedanken, bevor ich Sie in die Lektüre der wissenschaftlichen Beiträge entlasse.

Müssen wir denn jeden Leistenbruch operieren?

Lesen wir in den aktuellen Lehrbüchern des deutschsprachigen Raumes nach, so gibt es kaum einen Zweifel. Hier gibt es dogmatische Aussagen wie „jede Leistenhernie, ja schon beim Verdacht auf einen Bruch, sollte der Patient einer Operation zugeführt werden”. Evidenzbasiert (wie wohl das meiste was wir tun) sind diese Aussagen sicher nicht, sondern entspringen eher der Abwägung zwischen operativen Risiko und der Gefahr einer möglichen Inkarzeration. Wie hoch aber ist die Gefahr? Hierzu gibt es keine randomisierten Studien, so muss man auf die sehr spärlichen epidemiologischen Arbeiten zurückgreifen. Um sich der Frage der Indikation zu nähern, muss man zunächst drei Fragen beantworten.

Wie hoch ist die Prävalenz der Leistenhernie? Wie hoch ist die Inkarzerationsgefahr? Wie hoch ist Letalität der elektiven und der Notfalloperation?

Die Letalität des elektiven und des Notfalleingriffs liegt bei ca. 0,2 bzw. 4,7 % [3].

Mit der Beantwortung der Fragen 1 u. 2 steht es dabei allerdings etwas schwieriger. Aber auch hierzu finden sich in der Literatur Daten, wenn auch sehr spärlich. Eine Studie von Abramson et al. aus dem Jahre 1978 zeigte, dass in einem Stadtteil von Jerusalem bei Personen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren die Prävalenz eines Leistenbruches (exklusive operierter Leistenhernien) bei 29,5 % lag. Zwei Drittel aller Leistenbrüche waren nie operiert worden, 20 % der operierten Patienten zeigten ein Rezidiv.

In einer Arbeit von Neutra et al. aus dem Jahre 1981 gelang es tatsächlich das Inkarzerationsrisiko zu bestimmen. Diese Studie ist deshalb von so großer Bedeutung, da eine solche Erhebung in unseren Breitengraden nicht möglich wäre.

In einem Distrikt in Kolumbien gibt es vier große Krankenhäuser, die die gesamte chirurgische Versorgung der Bevölkerung, somit auch die Notfalleingriffe beim inkarzerierten Leistenbruch, wahrnehmen. Gleichzeitig gab es zu dieser Zeit, also vor gut 20 Jahren, dort praktisch keine elektive Leistenhernienchirurgie. Nachdem man in großen Reihenuntersuchungen die Prävalenz erhoben hatte, konnte man somit auch das Inkarzerationsrisiko errechnen. Während die Prävalenz bei 0-9-jährigen Kindern bei 0,45 % am niedrigsten lag, errechnete sich das Inkarzerationsrisiko in dieser Altersgruppe mit 1,7 % pro Jahr als sehr hoch. Im Vergleich dazu war die Prävalenz bei über 70-jährigen Menschen bei 19,4 %, das Inkarzerationsrisiko allerdings relativ niedrig bei 0,3 % pro Jahr.

Rechtfertigt dies in jedem Fall eine Operation?

Hierzu hat Post 1997 eine interessante Hochrechnung durchgeführt. Bei bekannter Prävalenz und Inkarzerationsrate hatte er die Anzahl der Todesfälle und die verlorenen Lebensjahre für drei hypothetische Situationen berechnet.

jede Leistenhernie wird bei Diagnose operiert, jede zweite diagnostizierte Leistenhernie wird operiert (also 50 %), es findet keine elektive Leistenhernienchirurgie statt, sondern nur im Falle einer Inkarzeration.

Erstaunlicherweise ergab die Rechnung die niedrigste Todesrate und die geringste Anzahl der verlorenen Lebensjahre für Situation c, also im Falle, dass keine elektive Leistenhernienchirurgie durchgeführt wurde, sondern nur im Notfall.

Natürlich gibt es viele Einwände gegen diese Studie, wie z. B. die Lebensqualität, die bei einem versorgten Leistenbruch sicherlich höher ist als mit einem schlecht sitzenden Bruchband.

Also wird der kritische Leser nun fragen: „Was soll man tun?” Unstreitig ist sicherlich die Versorgung eines Patienten im jungen oder mittleren Alter. Beim alten Menschen, der allerdings schon viele Jahre ohne Beschwerden mit einem Bruch lebt, sollte die Indikation zur Operation allerdings gründlich hinterfragt und individuell gestellt werden. Eine mögliche Einklemmung mit den damit verbundenen Risiken kann die Indikation zur operativen Versorgung sicher alleine nicht stützen.

Zweifellos sind die Verfahren mit Einlage eines Kunststoffnetzes eine große Bereicherung in der tä glichen Routine. Das Operationsverfahren nach Lichtenstein hat die Versorgung eines Bruches im Vergleich zum Verfahren nach Shouldice deutlich vereinfacht, ohne die Rate an Rezidiven zu erhöhen. Auch die endoskopischen Verfahren haben ihren Beitrag zur Optimierung der Bruchversorgung beigetragen, man denke besonders an die Versorgung des Rezidivs und des beidseitigen Bruches. Die Reparation mittels eines Plugs ist in den letzten Jahren in einigen Zentren „in Mode gekommen”, obwohl auch diese Verfahren schon viele Jahre existieren. Der geschätzte Leser mag sich selbst ein Bild über die Vielfalt der heute gängigen Methoden machen. Bewusst haben wir die „Kolibris” der operativen Versorgung ausgelassen, um nicht den Blick für das Wesentliche zu trüben. Der Leser mag entgegen allem Enthusiasmus allerdings nicht seine kritische Einstellung verlieren. Die Qualitätssicherung der Ärztekammer hat uns wiederholt mit hohen Zahlen über Rezidivoperationen den Spiegel vorgehalten. Was aber sollen diese Zahlen uns sagen: Gibt es vielleicht nur wenige gute Chirurgen und viele schlechte oder werden nur gute Zahlen publiziert? Die Wahrheit lässt sich wohl nicht eruieren, sie liegt aber vermutlich irgendwo in der Mitte. Diese Zahlen sollen den Leser allerdings aufhorchen lassen, das Gesagte und Geschriebene kritisch zu hinterfragen. Eines zeigen diese Zahlen in jedem Fall: Es bleibt noch viel Raum über eine Krankheit zu reden, über deren erfolgreiche Operation bereits gegen Ende des vorletzten Jahrhundert berichtet wurde.

Literatur

  • 1 Abramson J H, Gofin J, Hopp C, Makler A, Epstein L M. The epidemiology of inguinal hernia.  J Epid Comm Health. 1978;  32 59-67
  • 2 Neutra R, Velez A, Ferrada R, Galan R. Risk of incarceration of inguinal hernia in Cali, Colombia.  J Chron Dis. 1981;  34 561-564
  • 3 Post S. Wider die prinzipielle Operationsindikation bei der Leistenhernie.  Der Chirurg. 1997;  68 1251-1257

Prof. Dr. P. M. Markus

Klinik für Allgemeinchirurgie

Robert Koch-Str. 40

37070 Göttingen

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