Die von W. R. Miller und S. Rollnick an der Universität von New Mexiko speziell für die Arbeit mit wenig motivierten Suchtmittelkonsumenten entwickelte Methode basiert auf den Grundlagen der Gesprächspsychotherapie und auf sozialpsychologischen Forschungsergebnissen. Motivation zur Behandlung und zur Abstinenz werden als dynamischer Prozess [1] verstanden, auf den der Professionelle mit gezielten Interventionen Einfluss gewinnen kann. Es handelt sich um ein direktives Verfahren, das darauf abzielt, aktuell konsumierende Patienten bei der Formulierung und bei der Umsetzung abstinenzrelevanter Therapieziele zu unterstützen [2,3]. Das ursprünglich für kurze Serien ambulanter Einzelgespräche entwickelte MI wurde mittlerweile auch auf das Gruppensetting und den stationären Bereich erfolgreich übertragen [4].
Zur therapeutischen Grundhaltung:
Da Abhängigkeitskranke in der Gesellschaft und im sozialen Nahbereich oft auf Ablehnung stoßen, ist in jeder suchttherapeutischen Arbeit Empathie eine wesentliche Voraussetzung. Diesem allgemein anerkannten Wirkfaktor von Psychotherapie wird im MI besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei wird während der Ausbildung auch in Rollenspielen und anhand von Videoaufzeichnungen geprüft, ob die empathische Grundhaltung verbal und nonverbal wahrnehmbar ist. Gesprächssituationen, in denen die therapeutenseitige Empathie spürbar abnimmt, werden zum Anlass genommen, günstigere Alternativen für die vorangegangenen Interventionen zu entwickeln und zu erproben.
Therapeuten, die MI einsetzen, gehen davon aus, dass jede Person mit schädlichem oder abhängigem Konsum auch bei hohem Widerstand und bei anscheinender Verleugnung aller Probleme ambivalent ist [5]. Der konsumierende Patient wird umfangreich unterstützt, seine persönliche Ambivalenz zwischen Konsum- und Abstinenzorientierung zu klären und auszusprechen. Im Weiteren wird er dazu angeregt, in Gegenwart des Therapeuten persönliche Abstinenzmotive auszusprechen. Diesem als „Change talk“ bezeichneten Vorgang wird bei der Anwendung von MI viel Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet. Ihm wird die stärkste Motivationswirkung zugeschrieben.
MI zielt auf die Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung des Patienten. Der Therapeut vermeidet es, mit einer Expertenmeinung Überzeugungsversuche zu unternehmen. Er lässt dem Patienten in jedem Fall den größeren Teil der Redezeit und unterstützt ihn bei der Formulierung relevanter und realistischer Teilziele [6,7].
Die Interventionstechniken:
Offene Fragen dominieren meist in der ersten Gesprächshälfte. Sie geben dem Patienten Raum, seine Anliegen darzustellen. Sie zeigen ihm, dass der Therapeut kein Thema und keine Ausrichtung vorgibt, sondern für die Anliegen des Patienten offen ist.
Je nach dem Ausmaß der Selbstunsicherheit des Patienten werden von vornherein zahlreiche verbale und nonverbale Affirmationen in das Gespräch eingeflochten. Sie bestärken den Patienten darin, bei diesem Gegenüber und mit dem gewählten Thema richtig zu sein.
Spätestens wenn der Patient wesentliche Mitteilungen bezüglich seines problematischen Substanzkonsums macht, paraphrasiert der Therapeut die Aussagen des Patienten. Sofern der Patient ohne nennenswerten Gesprächsfortschritt perseveriert oder in Wiederholungen verfällt, stellt der Therapeut die bisherigen patientenseitigen Aussagen in einen anderen Zusammenhang („reframing“). Dieser neue Rahmen für das vom Patienten im bisherigen Gespräch gerade skizzierte Bild erweitert die Perspektive und greift idealerweise Hinweise zu Konfliktfeldern auf, die der Patient in seine Ausführungen aus Scham oder Angst nur unscheinbar eingeflochten hatte.
Nach einer Verabredung zum weiteren Vorgehen rundet eine Zusammenfassung durch den Therapeuten das Gespräch ab. Der Therapeut fasst nur zusammen, wenn der Patient hierzu explizit sein Einverständnis gegeben hat. Er benennt die wesentlichen Aspekte der patientenseitigen Ambivalenz und spricht alle geäußerten Abstinenzmotive noch einmal aus. Sofern der Patient bereits konkrete Schritte in Richtung auf die Erreichung oder die Aufrechterhaltung von Abstinenz benannt hat, werden diese selbstverständlich genauso in die Zusammenfassung einbezogen wie etwaige getroffene Verabredungen.
Am Ende der Zusammenfassung wird in jedem Fall gefragt, ob der Patient mit der therapeutenseitigen Formulierung einverstanden ist. Etwaige patientenseitige Korrekturen werden stets berücksichtigt. Sie dienen dem Therapeuten als Aufforderung, in Zukunft wahlweise besser zuzuhören oder mit patientenseitigen Aussagen achtungsvoller umzugehen.
Die Zusammenfassung verschafft dem Patienten nicht nur einen klaren Überblick über das Gespräch, sondern sie zeigt ihm, dass der Therapeut seine Ausführungen verinnerlicht und als bemerkenswert anerkennt. Die Zustimmung zu der Zusammenfassung durch den Therapeuten stellt eine nochmalige Bekräftigung der Aussagen durch den Patienten dar. Selbstverständlich können auch im Gesprächsverlauf entsprechende Zwischenbilanzierungen eingeschaltet werden, um dem Patienten einen Überblick und größere Selbstsicherheit zu geben.
Mit dem Widerstand gehen:
Im Verlauf einer Abhängigkeitsentwicklung treten oft ausgeprägtere sozial belastende und auch selbstschädigende Verhaltensweisen auf. Im Rahmen der Krankheitsentwicklung ist der Patient jedoch oft zunächst nicht willens oder in der Lage, tragfähige Verhaltensänderungen herbeizuführen. Beides kann zu erheblichen Verwicklungen und Spannungen zwischen dem Patienten und seiner persönlichen Umgebung führen. Bei Kontaktaufnahme zu einem Therapeuten erwartet der Abhängige nicht selten eine Reinszenierung jener fruchtlosen Streitereien, die ihm aus seinem privaten Umfeld leidvoll bekannt sind. Je größer die Angst ist, vom Therapeuten zu Krankheitseinsicht oder gar zu lebenslanger Totalabstinenz gezwungen zu werden, desto höher ist der Widerstand.
Wesentlicher Teil aller Trainings in MI ist daher der kreative Umgang mit dem Widerstand. Der verbale Boxkampf, das hartnäckige Tauziehen um als wesentlich erachtete Positionen oder der an das Florettfechten erinnernde kunstvolle Einsatz geschickter Argumente werden beim MI wie alle anderen kämpferischen Formen der Auseinandersetzung vermieden. Stattdessen werden die aus dem Widerstand erwachsenden patientenseitigen Impulse vom Therapeuten so aufgegriffen, dass der Patient wie in einen Tanz verwickelt wird. Der Therapeut bleibt in jedem Fall dem Patienten zugewandt und reguliert den Abstand zu diesem nach dessen Bedürfnis. Dabei ändert der Therapeut seine Position so, dass der Patient sich unversehens zu Schritten veranlasst sieht, die ihm eine neue Orientierung in seinem Umfeld ermöglichen und die im Endeffekt Widerstandspositionen überflüssig machen.
Dieser Vorgang gelingt nur, wenn der Therapeut keinerlei Therapieziele extern vorgibt. Dies sollte bei der in Deutschland allgemein in der Abhängigkeitsbehandlung üblichen Freiwilligkeit als Rechtsgrundlage der Behandlung und bei der allgemein geforderten Patientenzentrierung von Suchthilfe ohnehin nahe liegen. Klassische Fallgruben wie zum Beispiel die fruchtlose Diskussion über eine vom Patienten abgelehnte Abhängigkeitsdiagnose sind Ausgangspunkt für Trainings in Kleingruppen.
MI ist Teil des Curriculums der Deutschen Bundesärztekammer für die Erlangung der Fachkunde „Suchtmedizinische Grundversorgung“. Im Internet stehen unter http://www.motivationalinterviewing.org nicht nur Listen aller von Miller und Rollnick ausgebildeten Trainer, sondern auch Hinweise auf weit umfangreicheres Informationsmaterial und diverse aktuell angebotene Kurse.
Literatur:
1Prochaska OJ, DiClemente CC. In search of how people change. Applications to addictive behaviours. Am Psychol 1992; 47: 1102–1114
2Miller WR, Rollnick S. Motivational Interviewing. 2 ed. New York: Guilford, 2001
3Kremer G. Motivational Interviewing – Motivierende Gesprächsführung – Grundlagen, Prinzipien und Strategien. In: Pittrich W (ed.) Kurzinterventionen und motivierende Gesprächsführung. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe, 2000: 17–45
4Demmel R. Motivational Interviewing: Ein Literaturüberblick. Sucht 2001; 47 (3): 171–188
5Miller WR. Motivation for Treatment: A Review With Special Emphasis on Alcoholism. Psychological Bulletin 1985; 98 (1): 84–107
6Schwoon DR. Motivation – Ein kritischer Begriff in der Behandlung Suchtkranker. In: Wienberg G (Hrsg.). Die vergessene Mehrheit. Bonn: Psychiatrieverlag 1992; 170–182
7Miller WR. Motivation and Treatment Goals. Drugs and Society 1987; 1:133–151