Klinische Neurophysiologie 2003; 34 - 105
DOI: 10.1055/s-2003-816508

Ein inhibitorischer Effekt von räumlichem Arbeitsgedächtnis auf visuelle Aufmerksamkeit

F Ostendorf 1, C Finke 1, CJ Ploner 1
  • 1Berlin

Willkürliches Verhalten beruht auf dem erfolgreichen Wechselspiel zwischen attentionaler Selektion von Wahrnehmungsinhalten und ihrer Speicherung im Arbeitsgedächtnis. Defizite dieser beiden kognitiven Funktionen treten bei zahlreichen neurologischen Erkrankungen, die den präfrontalen Kortex und die mit ihm verbunden subkortikalen Areale betreffen, gemeinsam auf. Einzelzellableitungen und funktionell-bildgebende Studien belegen darüber hinaus eine enge Interaktion zwischen beiden Funktionen, die sich in einer Fazilitierung visueller Verarbeitung an Positionen äußert, die aktuell im Arbeitsgedächtnis gespeichert werden. In der vorliegenden Studie haben wir 10 gesunde Versuchspersonen eine Kombination aus einem Gedächtnissakkadenparadigma (5sekündige Gedächtnisphase) und einer Diskriminationsaufgabe (1500, 2500, 3500 ms nach Gedächtnisstimulus) durchführen lassen. Überraschenderweise fanden wir, dass Arbeitsgedächtnis auch zu einer signifikanten räumlich selektiven Inhibition visueller Verarbeitungsprozesse führen kann, mit einer Verlängerung von Reaktionszeiten auf den Diskriminationsreiz insbesondere 1500 ms nach Gedächtnisstimulus im Vergleich zu benachbarten Positionen (ANOVA mit p<0,0001 für Positionseffekte). Die Stärke dieses inhibitorischen Effektes hing klar von der Güte der Raumgedächtnisrepräsentation, d.h. der Präzision der korrespondierenden Gedächtnissakkaden, ab (p=0,01 zwischen präzisen und unpräzisen Sakkaden). In einem perzeptuell identischen Kontrollexperiment ohne Gedächtniskomponente war keine vergleichbare Inhibition zu beobachten. Unsere Befunde zeigen, dass die Interaktion zwischen Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeit weit flexibler ist, als bisher angenommen. Wir postulieren einen wahrscheinlich im präfrontalen Kortex generierten und bislang nicht beschriebenen inhibitorischen Mechanismus, der parallel zu fazilitierenden top-down-Effekten von Arbeitsgedächtnis zu bestehen scheint und Orientierung von Aufmerksamkeit zu neuen Wahrnehmungsinhalten außerhalb der aktuell im Arbeitsgedächtnis gespeicherten Raumkoordinaten begünstigt. Behaviorale Defizite von Patienten mit präfrontalen Funktionsstörungen könnten, zumindest partiell, auf einer Dysfunktion dieses inhibitorischen top-down-Mechanismus beruhen.