Patienten mit einem akuten ischämischen Infarkt der dorsolateralen Medulla oblongata
(Wallenberg-Syndrom) zeigen unter anderem eine Fallneigung und Gangabweichung zur
Seite der Läsion. Nachdem bei Patienten mit peripheren vestibulären Läsionen (Neuritis
vestibularis) eine geringere Gangabweichung mit höherer Ganggeschwindigkeit gefunden
worden war, sollte in dieser Studie die Gangabweichung bei Patienten mit Wallenberg-Syndrom
in Abhängigkeit vom Gangmuster und von der Ganggeschwindigkeit untersucht werden.
Zwölf Patienten (5 Frauen) mit Wallenberg-Syndrom (klinisches Bild und MRT-Nachweis
des Infarkts, 3–10 Tage nach Beginn der Symptome) nahmen an der Studie teil (Alter
25–71 Jahre). Sie wurden dazu aufgefordert (1) ganz langsam zu gehen, (2) mit maximaler
Geschwindigkeit zu gehen und (3) langsam zu laufen. Die Trajektorien des Ganges wurden
bei 5 Patienten mit einem Kamerasystem registriert, das Infrarot-sensitive Dioden,
die an den Patienten befestigt waren, detektierte. Die Gangabweichung der übrigen
7 Patienten wurde mit einer digitalen Kamera auf der Station gemessen. Zur Quantifizierung
wurde jeweils die Winkelabweichung nach 5s Lokomotion bestimmt. Alle Patienten zeigten
eine reproduzierbare Gangabweichung zur Seite der Läsion. Die mittlere Gangabweichung
nach 5s betrug bei langsamen Gehen 43,5±19,1 deg (n=12; range 15–80 deg), bei schnellem
Gehen 22,8±17,8 deg (n=12; range 0–60 deg) und bei langsamen Laufen 13,6±13,7 deg
(n=7; range 0–40 deg). Die Unterschiede in der Gangabweichung waren signifikant zwischen
langsamen und schnellen Gehen (p<0,001) und zwischen schnellem Gehen und langsamen
Laufen (p=0,034). Alle Patienten berichteten, sie fühlten sich sicherer bei höherer
Ganggeschwindigkeit. Die Daten zeigen, dass die reduzierte Abhängigkeit von vestibulären
Störsignalen bei automatisierten Lokomotionsmustern (schnelles Gehen und Laufen) nicht
nur für periphere sondern auch für zentrale vestibuläre Störungen zutrifft. Die Ergebnisse
unterstützen die Hypothese, dass automatisiere Lokomotion weitgehend unabhängig von
vestibulärer sensorischer Kontrolle erfolgen kann.