Klinische Neurophysiologie 2003; 34 - 17
DOI: 10.1055/s-2003-816420

Neuroradiologische und elektrophysiologische Funktionsdiagnostik in der Beurteilung akuter kortikaler Blindheit

F Boesebeck 1, S Kunz 1, T Beblo 1, F Wörmann 1, M Driessen 1
  • 1Bielefeld

Bilaterale Läsionen im posterioren Kortex können klinisch zu akuter kortikaler Blindheit führen, welche gelegentlich mit einer Anosognosie für die Sehstörung einhergeht (Anton Syndrom). In Fällen totaler oder partieller Remission der Sehstörung entwickeln Patienten gelegentlich apperzeptive Agnosien für visuell angebotene Objekte, was klinisch ein Fortbestehen der Blindheit vortäuschen kann. Die Prognose der akuten kortikalen Blindheit ist variabel und vermutlich abhängig vom Ausmaß der Zerstörung visuell eloquenter Kortexareale. Die vorliegende Studie beschreibt eine 53-jährige Patientin, die infolge einer komplexen traumatischen Hirnschädigung das klinische Bild einer akuten Blindheit mit Anosognosie und begleitender Wernicke Aphasie entwickelte. Im strukturellen MRT fanden sich bilateral keilförmige Läsionen im temporo-parieto-okzipitalen Übergang unter inkompletter Beteiligung des medio-okzipitalen Kortex sowie zusätzliche bifrontale Läsionen mit Blutungsresiduen. Während sich im Verlauf eine partielle Besserung der visuellen Wahrnehmung (Farberkennung, eingeschränkte Orientierung im freien Raum) einstellte, blieben willentliches Fixieren, Erkennen oder Gebrauchen von visuell angebotenen Alltagsgegenständen weiterhin schwer beeinträchtigt. Differentialdiagnostisch wurde eine residuale Agnosie vermutet. Aufgrund der Aphasie und einer globalen Aufmerksamkeitsstörung war jedoch eine präzise Syndromabgrenzung und damit eine prognostische Abschätzung des Krankheitsverlaufes nur eingeschränkt möglich. Weiterführende Funktionsdiagnostik: Das funktionelle MRT ergab eine visuelle Aktivierung im Bereich der rechten medio-okzipitalen Mantelkante, der linksseitige visuelle Kortex blieb dagegen ohne BOLD-Signal. Im EEG fand sich ein erhaltener, irregulär konfigurierter, nicht reagibler okzipitaler Grundrhythmus im Alphaband ohne klare Seitendifferenz hinsichtlich Amplitude und Frequenz, die visuell evozierten Potenziale waren bilateral nachweisbar. Zusammenfassend kann bei der Patientin von einem – zumindest partiellem – Erhalt des primär visuellen Kortex ausgegangen werden, was die Interpretation des klinischen Bildes als Agnosie bei erhaltener primärer visueller Wahrnehmung nahe legt.