Fortschr Neurol Psychiatr 2004; 72(1): 58-59
DOI: 10.1055/s-2003-812458
Nachruf
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In memoriam: Wolfgang Blankenburg

In memoriam: Wolfgang BlankenburgT.  Reuster1
  • 1Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus der TU Dresden (Komm. Direktor: Prof. Dr. W. Felber)
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Publication Date:
27 January 2004 (online)

Im Herbst 2002 ist Prof. Dr. med. Wolfgang Blankenburg, Nestor der deutschen anthropologischen Psychiatrie, im Alter von 74 Jahren verstorben.

Professor Blankenburg hat die wissenschaftliche Diskussion der anthropologisch-phänomenologischen Psychiatrie seit Ende der 50er-Jahre, als sie modern war, bis zu seinem Tod, da sie vom psychiatrischen Mainstream marginalisiert worden ist, maßgeblich geprägt, beeinflusst, hat ihr Impulse gegeben und Akzente gesetzt, die ihn in seiner charakteristischen Form des Denkens und Schreibens deutlich erkenn- und unterscheidbar gemacht haben. Er starb auf dem Weg zu einem Kolloquium.

Der gebürtige Bremer und Sohn eines Verkehrspiloten studierte Medizin, Psychologie und Philosophie - u. a. bei M. Heidegger - in Freiburg und wandte sich dann zunächst der Inneren Medizin und Psychosomatik bei Herbert Plügge in Heidelberg zu. Im Anschluss an Facharzt-Weiterbildung und Habilitation an der Psychiatrischen- und Nervenklinik der Universität Freiburg bei Hans Ruffin war er mehrere Jahre an der Heidelberger Universitätsklinik - nach der Emeritierung Walter von Baeyers auch als kommissarischer Direktor - tätig. Seit 1975 Direktor der Psychiatrischen Klinik I in Bremen, folgte Wolfgang Blankenburg 1979 dem Ruf auf den Marburger Lehrstuhl für Psychiatrie und wirkte bis zu seiner Pensionierung im Oktober 1993 als Leiter der Psychiatrischen Klinik der Philipps-Universität.

Unermüdlich (man kann es nicht anders sagen) versah er dabei auch seinen Dienst an der - wie er gern sagte - anthropologischen Sache, sei es klinisch-praktisch oder theoretisch, d. h. diskutierend, referierend, publizierend.

Der Autor dieser Zeilen will vor allem als Schüler an ihn erinnern. Er verdankt ihm viel für seine eigene Arbeit und möchte umreißen was, obwohl es nicht einfach ist, weil Blankenburg nicht einfach war. Dies gilt zunächst für Blankenburg als Autor. Seine zahlreichen Arbeiten zur psychiatrischen Phänomenologie und Anthropologie stellen an den Leser den Anspruch, äußerst subtilen, dialektisch bewegten und bewegenden Gedanken zu folgen, offen zu sein für neue Perspektiven und Erkenntnisse, die sie auch scheinbar Bekanntem durch vertieftes Betrachten und Verstehen hinzufügen, und die ihn wie nebenbei auch immer wieder zu der Grundeinsicht führen: dass nämlich Erkenntnis nie am Ende ist. Seine Arbeiten lesen sich meist nicht einfach: Sie wollen erschlossen sein, wie sie selbst von der Intention eines Erschließens geleitet sind, nicht vom Feststellen, Zählen, Rechnen.

Seine Themen schöpfen aus dem klinischen Fundus der Psychiatrie und stehen damit in bester anthropologischer Tradition: u. a. blande Schizophrenie, Hebephrenie, Wahn, Depression, Hysterie, Zwang; sein Anspruch ist immer ein erhellender, gedanklich durchdringender. Versteht sich, dass er sich namentlich auch Grundlagenproblemen der Psychiatrie, der Psychopathologie und solchen des Leibes, der Leiblichkeit und der Wahrnehmung zuwandte oder der Sprache Schizophrener - und zwar, etwas vereinfacht gesagt, aus phänomenologischer Perspektive, wobei ihm neben anderen Heidegger und Merleau-Ponty besonders wichtig waren.

Blankenburgs veröffentlichte Arbeiten bevorzugen die „kleine Form”, damit etwa an Zutt erinnernd: Aufsätze, Beiträge in wichtigen Sammelbänden, Enzyklopädien, Lehr- und Handbüchern. Aus seiner Habilitationsschrift ging 1971 sein Buch mit dem schlagenden Titel „Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit” hervor, das ihn international bekannt machte. Dieses Buch über symptomarme Schizophrenien ist u. a. auch ein Beispiel für den Wert der Einzelfalluntersuchung, wenn sie unter dem Anspruch steht, gerade das Allgemeine in seiner besonderen Form am einzelnen Fall kenntlich zu machen. Eine Nähe zu Goethes Bekenntnis, sein Denken sei eigentlich ein Anschauen und sein Anschauen ein Denken, lässt sich nur schwer übersehen und vor allem: wie fruchtbar Blankenburg es gemacht hat.

Besonders lebendig in der Erinnerung des Autors sind Blankenburgs Leidenschaft und Lebhaftigkeit in Angelegenheiten des Intellekts und des Denkens: ein Mann des Geistes, der sich noch mit Heidegger gestritten hatte, der seine Assistentinnen und Assistenten gerne nach ihrer „geistigen Visitenkarte” fragte; der aber auch jede explizite Unterhaltung zu einem Ereignis machen konnte, weil er, stupend gelehrt, neue Aspekte fand, den besprochenen Sachverhalt überraschend in ein anderes Licht stellte oder in Bezüge, die verblüfften.

Den Umgang mit den Patienten - als Theorie eine Domäne der anthropologischen Psychiatrie - hat er in der Klinik viel weniger gepredigt als einfach auf seine Weise praktiziert; und wer seine Visiten begleiten durfte, entwickelte ein Gefühl dafür, wie es geht. Vieles kann man lehren, das Wichtigste manchmal nur vorleben. (Er schrieb: „Die der Praxis entspringende Intuition eilt der Theorie oft voraus. Dies hat zur Folge, dass oft das Beste der Therapie nicht anders als persönlich weitergegeben werden kann”.) Zum Beispiel den unerschütterlichen Respekt vor jedem Patienten, der in einem schwer sagbaren Sinn seiner Existenz galt, seinem Überhaupt-Dasein und seinem So-Dasein; oder dass es bisweilen ein Ringen ist, welches Arzt und Patient verbindet, aber das Ergebnis ein Zuwachs an Freiheit; oder: wie man dem Patienten sein entgegengebrachtes Vertrauen zurückgibt, die Selbstheilung und das Gesunde stärkend. In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist seine sorgsame Beachtung soziotherapeutischer Möglichkeiten und die Förderung körper- bzw. leiborientierter Therapieverfahren. Und sein sicheres Gespür für das rechte Maß.

In der Diskussion psychiatrischer, anthropologischer Angelegenheiten unbestrittener König, war er allerdings im Hochschul- und Wissenschaftspolitischen weniger begabt, manchmal jedenfalls ungeschickt.

An Wolfgang Blankenburg scheiden sich die Geister (auch als Mitarbeiter bekam man es zu spüren). Für die einen ein Großer unter den anthropologischen Psychiatern in der Tradition Minkowskis, E. Straus', Binswangers, v. Gebsattels, Zutts und anderer, für andere Anti-Szientist und bloßer Homme de Lettres, der seine Fakultät verfehlt habe. Beide Ansichten sind Schattenbilder, nicht nur auf Zweidimensionalität reduziert, sondern auch in der Fläche verzerrt. Blankenburg wehrte sich gegen (und verwehrt einem) Festlegungen; stets war er mehr auf der Suche nach dem Werden und der Vielfalt denn nach dem Fest-Gestellten oder Ausgerechneten. Und der anthropologisch-phänomenologischen Ahnenreihe stand er differenziert, auch kritisch und distanziert gegenüber. Er stellte Heidegger bohrende Fragen - etwa zum szientifischen Gehalt der „Lichtung” (worüber jener sich bei Medard Boss beklagte) - oder zerstritt sich mit Dieter Wyss, welcher darauf die (von ihm selbst begründete) Deutsche Gesellschaft für anthropologische Psychiatrie und Psychotherapie verließ. Gegen eine engere Bindung an Husserls transzendentale Phänomenologie favorisierte er eher die post-Heideggersche Wahrnehmungs-Phänomenologie Merleau-Pontys und entwickelte einen ausdifferenzierten Leib-Begriff. In den letzten Jahren kam er immer wieder auf systemtheoretische Modelle oder das Emergenzphänomen zu sprechen, deren Bedeutung für die Psychiatrie noch nicht hinreichend erkannt sei.

War er in seiner theoretischen Position schwer zu orten, so widersprach er aber auch eklatant dem Bild des „Schöngeistes”. Er war ein philosophischer, aber auch auf festem Erfahrungsgrund stehender Arzt. Nie ließ er daran zweifeln, dass naturwissenschaftliche Forschung in der Medizin und Psychiatrie notwendig und nützlich ist. Und die Beherrschung bekannter wie innovativer klinischer Kenntnisse und Instrumente war für ihn eine Selbstverständlichkeit, die er bei seinen Mitarbeitern förderte, aber auch voraussetzte. Der Maßstab lag hoch. Sicheres und reliables Diagnostizieren wurde ebenfalls erwartet und auch geübt. Doch war es für das, worauf es Blankenburg ankam, nicht das Wichtigste. Wichtiger war die Frage danach, wie weit die Bedeutung des empirisch Gesicherten reicht und welche Phänomene anderer und ergänzender Erfassung bedürfen. Für das Verständnis psychischen Krankseins hieß das im konkreten klinischen Fall etwa, dass man sich auf die Welt des Kranken möglichst vorurteils- und kategorienfrei einließ (freilich nicht im Sinne naiven Mitagierens), nicht (nur) Kriterien abfragte, sondern (auch) sich einfragte, um das Erleben des psychisch Kranken mitgeteilt zu bekommen und es verstehen zu lernen. Und dass man gleichzeitig sein eigenes Verstehen nicht überschätzte.

Am konkreten Fall setzten dann auch wieder die Diskussion und das Bemühen um andere, vielleicht angemessenere Sichtweisen und Lesarten der Phänomene an. Das Schöne war: es ging nie um Dogmen. Blankenburg, der soviel wusste, der sich kraftvoll und manchmal eigensinnig durchzusetzen verstand - er wusste genau, wie wenig überhaupt endgültig gesagt werden kann. Gerne sprach er vom Unausgeschöpften. Es gilt auch für sein eigenes Werk. So wird es lebendig bleiben.

Dr. Thomas Reuster

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie · Universitätsklinikum Carl Gustav Carus

Fetscherstr. 74

01307 Dresden

Email: thomas.reuster@mailbox.tu-dresden.de

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