Fortschr Neurol Psychiatr 2004; 72(5): 243-244
DOI: 10.1055/s-2003-812452
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Off-label use” in Psychiatrie und Neurologie

Off-Label Use of Drugs in Psychiatry and NeurologyC.-W.  Wallesch1
  • 1Klinik für Neurologie der Universität Magdeburg
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Publication Date:
07 May 2004 (online)

Das vorliegende Heft der Fortschritte enthält zwei Arbeiten von Herrn Kollegen Wetterling [1] [2] zu einem brisanten Thema: der Verwendung von Medikamenten außerhalb des Indikationsbereiches ihrer Zulassung. Dazu hat bekanntlich das Bundessozialgericht (BSG) 2002 ein aufsehenerregendes Urteil gefällt. Wetterling [1] beschreibt das Spannungsfeld - so kann nach einer nachvollziehbaren Rechtsprechung des OLG Köln aus dem Jahr 1991 der „off-label-use” geradezu medizinisch geboten sein. Allerdings gelten dabei die rechtlichen Rahmenbedingungen des „Heilversuchs” mit erweiterter Aufklärungspflicht und Haftung. Andererseits ist aus rechtlich-formalen Gründen die Rechtsprechung des BSG geradezu zwingend, dass bei Verordnung außerhalb des zugelassenen Indikationsbereichs besonders scharfe Kriterien an Indikationsstellung, Ausschluss oder Unwirksamkeit von Alternativen, Aufklärung und Haftung zu stellen sind. Hierbei wird deutlich, dass die „Therapiefreiheit” ein fremdnütziges Recht ist, der Arzt muss gegebenenfalls belegen, dass ein Nutzen für den konkreten Patienten zu erwarten, in verzweifelten Situationen zumindest zu erhoffen war.

Dabei hatte das BSG die deutsche Sozialgesetzgebung zu befolgen. Die gesetzlichen Krankenkassen sind verpflichtet, nur solche Leistungen zu entgelten, die „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten” (§ 12, 1 SGB V). Die Bewertung, ob eine Leistung „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich” ist, obliegt nach dem GKV-Modernisierungsgesetz dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (neuer § 35b SGB V). Das Recht des MDK, bei nach DRGs abrechnenden Häusern die Behandlungsunterlagen von Stichproben von stationär behandelten Patienten (z. B. alle Patienten einer ICD-Nummer, einer OPS-Prozedur, einer DRG) zu überprüfen (§ 17c KHG), setzt im stationären Bereich, vor allem in Universitätskliniken, die Krankenhäuser dem möglichen Vorwurf aus, Patienten zu Forschungszwecken, weil mit für die Indikation nicht zugelassenen Medikamenten behandelt zu haben. Hier könnte sich ein neues Problemfeld auftun.

Zum ethischen Problem wird die Debatte um den „off-label-use” in ihrer Verknüpfung mit ökonomischen Aspekten. Gerichtlich geklärt wurden vor allem Streitigkeiten um Kostenerstattungen hochpreisiger Behandlungen (dazu zählt im Volumen auch die Drogensubstitution mit einem Hustenmittel). Für die medizinische Versorgung bedrohlich sind jedoch die Situationen, in denen Zulassungsstudien nur unter extrem aufwändigen Bedingungen durchgeführt werden können (z. B. Neonatologie, Pädiatrie, Geriatrie) oder in denen kein ökonomisches Interesse der Industrie an einer Zulassungsstudie besteht (z. B. Azathioprin bei Myasthenie, vgl. www.dgn.org/66.0.html, Stellungnahme K. Toyka für die Kommission „Leitlinien” der DGN). Wetterling [1] macht deutlich, dass für Zulassungsstudien bei fehlendem ökonomischen Interesse kein Kostenträger eintritt.

In diesem Zusammenhang ist das weitere Schicksal von Restex® für die Indikation „restless legs” von besonderem Interesse. Der Inhalt des Präparates ist identisch mit dem von Antiparkinson-Generika, es unterscheidet sich jedoch der Beipackzettel, der die Kosten der Zulassungsstudie tragen soll, und der Preis. Gleichzeitig werden über die Restless-Legs-Selbsthilfe (und Referenten interessierter Firmen) Briefvorlagen verteilt, mit denen für (ebenfalls nicht zugelassene) Dopaminergika bei der gesetzlichen Krankenversicherung der „off-label-use” beantragt werden soll. Hier besteht eine prototypische Situation, mit der sich das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen umgehend befassen sollte, um eine Grundsatzentscheidung herbeizuführen (und seine Funktionsfähigkeit unter Beweis zu stellen).

Für die Psychiatrie stellt der Artikel von Wetterling [2] das Ausmaß der Problematik dar. Für das Fach Neurologie mit seinen vielen seltenen Erkrankungen, für deren medikamentöse Behandlung keine randomisierten Studien, sondern häufig nur Fallberichte zur Verfügung stehen, stellt sich das Problem in noch größerer Schärfe. Die „ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche” Behandlung wird zur Guillotine eines von allen Beteiligten ungewollten therapeutischen Nihilismus und längerfristig zum ökonomischen Anreiz, per Zulassungsstudie den Beipackzettel zum entscheidenden ökonomischen Motor zu machen. Hier muss das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen rasch einen Kompromiss (z. B. analog den „orphan drugs”) finden, der hinsichtlich Qualität und Wirtschaftlichkeit vertretbar ist.

Die Gesetzlichen Krankenkassen scheinen das Problem zunächst pragmatisch anzugehen: laut persönlicher Mitteilung prüft eine Ersatzkasse alle Verordnungen, die im Quartal mehr als € 150,- ausmachen und greift bei Überschreitung auf die Kompetenz des MDK zurück (der dann Azathioprin bei Myasthenie vermutlich akzeptiert). Es besteht jedoch für den verordnenden Arzt eine enorme Rechtsunsicherheit (Schwangerschaft trotz Verhütung, Pneumonie, spätere maligne lymphoretikuläre Erkrankung), die unerträglich ist und der Lösung bedarf.

Literatur

  • 1 Wetterling T. Rechtsprechung zur Verabreichung von Medikamenten außerhalb der zugelassenen Indikationsgebiete („off-label-use”).  Fortschr. Neurol Psychiat. 2004;  72 255-259
  • 2 Wetterling T. Verabreichung von Medikamenten außerhalb der zugelassenen Indikationsgebiete (,,off-label-use”).  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 245-254

Prof. Dr. C.-W. Wallesch

Direktor der Klinik für Neurologie der Universität Magdeburg

Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

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