Klin Padiatr 2003; 215(6): 289-290
DOI: 10.1055/s-2003-45489
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Translation der kliniknahen Grundlagenforschung in die pädiatrische Onkologie

Transferring Disease-Oriented Basic Research into Pediatric OncologyU.  Göbel, H.  Jürgens
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Publication Date:
15 December 2003 (online)

Das Institut für Kinderkrebsforschung (Children’s Cancer Research Institut - CCRI) am St. Anna Hospital in Wien begeht in diesem Jahr sein 15-jähriges Bestehen mit einem internationalen Symposium, zu dem führende Grundlagenforscher aus der ganzen Welt eingeladen sind. Sie werden ihre neuesten Forschungsergebnisse zu den Krebserkrankungen des Kindes- und Jugendalters vorstellen und diskutieren sowie gegenüber kritischen Fragen der Fachkollegen zu verteidigen haben.

Ungewöhnlich ist, eine Tagung von und für Grundlagenforscher mit der Halbjahrestagung der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) zu kombinieren, da diese interdisziplinäre Fachgesellschaft mehrheitlich aus klinisch tätigen Kinderärzten besteht. Es handelt sich jedoch nicht um ein zufälliges Zusammentreffen oder einen einsamen Vorstandsbeschluss, sondern um den Mehrheitsentscheid der Mitgliederversammlung. Dies entspricht dem Selbstverständnis der GPOH und ihrer Mitglieder, wie an drei Beispielen sichtbar wird:

1966 haben Kinderärzte, die sich der Behandlung krebskranker Kinder zugewandt hatten, die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Leukämieforschung und -behandlung e. V. gegründet, aus der 1991 durch Vereinigung mit der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie die GPOH entstanden ist. Von Beginn an war die kliniknahe Grundlagenforschung als wichtig erkannt, da die Kenntnis der Erkrankungsbiologie Grundlage einer rationalen und rationellen Therapie ist. Forschungsergebnisse werden seit 1977 regelmäßig in den „Ergebnissen der Pädiatrischen Onkologie” als Spezialheft der Zeitschrift „Klinische Pädiatrie” veröffentlicht und allen Mitgliedern der GPOH zugänglich gemacht. Hierbei sind immer Arbeiten der kliniknahen Grundlagenforschung unter dem Aspekt der Translation für innovative Behandlungsverfahren präsentiert worden. Der Titel des ersten Originalbeitrages im Jahr 1977 „Klassifikation der Non-Hodgkin-Lymphome im Kindesalter” (Prof. Dr. Dr. h. c. K. Lennert) beinhaltete den Paradigmenwechsel von einer rein morphologischen Diagnostik zu einer entwicklungsbiologisch orientierten Einteilung. Das CCRI ist von Herrn Prof. Dr. H. Gadner 1988 im St. Anna Spital gegründet worden, nachdem er 8 Jahre vorher zum Ärztlichen Leiter dieses Kinderkrankenhauses der Maximal-versorgung berufen worden war und es aufgrund seiner Kompetenz zu einer führenden Institution in der Kinderkrebsbehandlung im deutschsprachigen Raum entwickelt hat. Die Gründung eines selbständigen Forschungsinstitutes an einer Kinderklinik ist im deutschsprachigen Raum bisher einmalig.

Klinische und experimentelle Forschungen sind die Voraussetzung zum Verständnis der Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen und wesentliche Grundlage der erreichten Behandlungserfolge. Heute werden 65 % der erkrankten Kinder und Jugendlichen durch die Primärtherapie geheilt und durch Zusatzmaßnahmen weitere 18 %, während vor 30 Jahren noch 90 % der betroffenen Kinder verstorben sind.

Meilensteine auf dem Weg zu diesem Erfolg sind in Tab. [1] zusammengefasst, von denen zwei näher kommentiert werden:

Das Kinderkrebsregister hat eine zentrale Funktion, da hier die Meldung eines neu erkrankten Kindes und auf der Grundlage einer hohen Prozessqualität die Einbindung in das Kompetenznetzwerk der Pädiatrischen Onkologie erfolgt. Das bevölkerungsbezogene Kinderkrebsregister führt Forschungen z. B. zur Ätiologie oder zur Inzidenz von bösartigen Zweiterkrankungen durch. In Ergänzung hierzu sind die diagnosespezifischen, d. h. klinisch ausgerichteten Register bei den Studienleitungen entstanden, die eine zunehmend individualisierte Therapie ermöglichen. Allgemein wichtigster Prognoseparameter ist das Ansprechen auf die eingesetzte Therapie, deren Effekt mit Hilfe neuer Untersuchungstechniken auch im submikroskopischen Bereich möglich ist und als Diagnostik der minimalen residualen Resterkrankung zu festgesetzten Untersuchungszeitpunkten erfolgt. Dieses mittlerweile allgemein anerkannte Prinzip ist zuerst im Rahmen der BFM-ALL-Studie geprüft und belegt worden. Entscheidende Voraussetzung ist hierzu gewesen, die entsprechenden Kooperationspartner innerhalb der Gruppe der klinischen Behandler und der kooperierenden Grundlagenforscher zusammen zu führen, um innovative Hypothesen zu generieren, zu formulieren, zu prüfen und die erforderliche Forschungsunterstützung einzuwerben. Dieses wissenschaftliche Begleitprojekt ist als Multicenterstudie dank der Förderung durch die Deutsche Krebshilfe bundesweit erfolgreich aktiviert worden.

Wesentlicher Inhalt der stratifizierten und individualisierten Therapiemaßnahmen sind Referenzbegutachtungen der Leukämiezellen oder des Tumormaterials aufgrund der morphologischen Diagnose, Immunphänotypisierung und - zunehmend mehr - molekularer Marker. Diese mit der Biologie der Erkrankung assoziierten Merkmale haben inzwischen eine größere Bedeutung für die Therapiestratifikation als die konventionellen Risikofaktoren wie Lokalisation und Stadium, wie es beispielhaft auch für das Neuroblastom gesichert ist.

Der aktuelle Wissenstand zur Diagnostik und Therapie ist in den Therapieoptimierungsstudien zusammengefasst, die flächendeckend für die ganze Bundesrepublik eine gleich gute Behandlungssituation für die erkrankten Kinder und Jugendlichen unabhängig vom Wohnort ermöglichen sollen. Diese Therapieoptimierungsprotokolle sind gleichzeitig ein Instrument der klinischen Forschung und werden alle 3 bis 5 Jahre überarbeitet. Ohne die langjährige Förderung der Deutschen Krebshilfe für die überwiegende Mehrzahl der Protokolle wäre die Versorgung der Patienten auf dem international anerkannt hohen Niveau nicht gewährleistet und die Patientengerechtigkeit nicht gegeben. Wesentliche Voraussetzungen sind also die flächendeckende Erfassung, Diagnostik nach einheitlichen Kriterien und die schnelle Interaktion mit den Repräsentanten der patientennahen Grundlagenforschung.

Für die pädiatrische Onkologie stellt sich die Startphase derartiger interdisziplinärer Projekte häufig insofern schwierig dar, als die für die Voruntersuchungen erforderlichen Ressourcen von den potenziell infrage kommenden Kooperationspartnern vornehmlich bei Erkrankungen mit größerer Häufigkeit eingesetzt werden. Dies trifft besonders für prospektive Kooperationspartner zu, die nicht der pädiatrischen Onkologie zuzurechnen sind.

Um die Fortschritte der molekularen Medizin mit den in sie gesetzten Hoffnungen auch für krebskranke Kinder und Jugendliche nutzbar zu machen, sind weitere Schnittstellen zwischen Grundlagenforschung und klinischer Anwendung zu definieren und zu besetzen. Dies gelingt durch die Einrichtung von Forschergruppen in den etablierten Abteilungen für pädiatrische Hämatologie und Onkologie, die Brückenfunktionen für jeweils eins der in Tab. [2] genannten Forschungsfelder wahrnehmen können. Erleichtert wird dies durch die Förderung der pädiatrischen Onkologie im Kompetenznetzprogramm der Bundesrepublik Deutschland durch Stärkung der über Jahre entwickelten Netzwerkstruktur. Eine erste Forschungsprofessur für Experimentelle Onkologie ist 1998 in Münster eingerichtet worden. Weitere derartige Forschungsprofessuren mit einem jeweils anderen Schwerpunkt sind inzwischen ausgeschrieben oder befinden sich noch im Beantragungsverfahren.

Die Kombination von klinischen Registern mit Tumorregistern bzw. Tumorbanken sind ideale Voraussetzungen für erfolgreiche Kooperationen, die mittlerweile auch vom Ausland als attraktiv angesehen werden.

Durch die Verbindung von molekularer und klinischer Medizin soll zuallererst den krebskranken Kindern und Jugendlichen geholfen werden, die noch heute trotz aller intensiven Behandlungsmaßnahmen versterben. Ein weiteres und genau so wichtiges Ziel ist die Verbesserung der Qualität des Überlebens in subjektiver Weise für die Patienten und in objektiver Weise für die Gesellschaft. Hierdurch wird die heute schon bei der ganz überwiegenden Mehrzahl der Patienten zu ermöglichende soziale Integration zur Selbstverständlichkeit. Auf diesem Wege sind noch einige Meilensteine zurückzulegen, die auch die immer noch sehr hohe Therapiebelastung erleichtern.

Tab. 1 Wichtige Meilensteine der Pädiatrischen Onkologie auf dem Weg zur Heilung krebskranker Kinder 1947 Einführung von Methotrexat und Start der systemischen Chemotherapie 1966 Prophylaktische ZNS-Bestrahlung bei Kindern mit ALL (D. Pinkel, Memphis) 1970 Intensivierte Polychemotherapie bei Kindern mit ALL nach dem Berliner Protokoll (H.J. Riehm, Berlin) 1958 Entdeckung des HLA-Systems als Grundlage der allogenen Knochenmarktransplantation (J. Dausset, Paris) 1974 Neoadjuvante Therapie von Knochensarkomen (G. Rosen, New York) In-vivo-Chemoresistenztestung - Down Staging - Planung extremitätenerhaltender Operationen, hochdosierte MTX-Behandlung 1977 Aufbau des Kindertumorregisters in Kiel und Referenzbegutachtung nach einheitlichen Kriterien (D. Harms, Kiel) 1980 Gründung des Kinderkrebsregisters der GPO in Mainz mit zentraler Koordination der flächendeckenden Behandlung krebskranker Kinder und Jugendlicher in Deutschland (J. Michaelis, Mainz) 1991 Prospektive multizentrische Prüfung der Minimal-residual-disease-Diagnostik bei Kindern mit ALL (C. Bartram, Heidelberg) 1995 Prospektive Erfassung von Spätfolgen auf der Grundlage diagnosespezifischer Therapieprotokolle (J. Beck, Erlangen) 2000 Prospektive Selbstevaluation der Lebensqualität auf der Grundlage diagnosespezifischer Therapieprotokolle (G. Calaminus, Düsseldorf)

Tab. 2 Kliniknahe Grundlagenforschung und Vernetzung mit der pädiatrischen Onkologie Molekulargenetische Subklassifikation der malignen Erkrankungen für eine risikoadaptierte Therapie Pharmakokinetik und Pharmakodynamik zur Therapieoptimierung In-vitro-Resistenztestung als Rationale individuell angepasster Therapien Genexpressionsanalysen zur individuellen Risikoevaluation als Grundlage supportiver Therapiestrategien Immunologische Tumortherapie durch allogene Stammzelltransplantation

Prof. Dr. med. U. Göbel Prof. Dr. med. H. JürgensMedizinischer Beirat der Vorsitzender der Gesellschaft fürDeutschen Krebshilfe Pädiatrische Onkologie und Hämatologie

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