Fortschr Neurol Psychiatr 2003; 71(12): 639-640
DOI: 10.1055/s-2003-45346
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Babinski-Phänomen in der Interpretation Kurt Goldsteins und Robert Wartenbergs

Kurt Goldstein's and Robert Wartenberg's Interpretation of Babinski's SignC.  W.  Wallesch
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Publication Date:
08 December 2003 (online)

In diesem Jahr jährt sich Kurt Goldsteins (1878 - 1965) Geburt zum 125-mal, Robert Wartenberg (1887 - 1956) wurde vor 50 Jahren der im Nationalsozialismus verweigerte Titel eines Professors von der Universität Freiburg zuerkannt und die akademischen Rechte zurückgegeben [1], nachdem er 1935 seine Dozentur dort verloren hatte. Goldsteins und Wartenbergs erzwungenes Exil in den USA war Teil des Exodus hunderter deutscher (und später auch österreichischer) jüdischer und sozialistischer Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten, der die deutsche Nervenheilkunde nachhaltig geschädigt und die der Aufnahmeländer, vor allem der USA, gefördert und teilweise auch geprägt hat. Goldstein (obwohl stets klinisch tätig) als theorieorientierter Denker und Wartenberg als genialer und enorm kenntnisreicher Kliniker gehören zu diesen prägenden Persönlichkeiten.

Kurt Goldstein wurde in Kattowitz (Oberschlesien) geboren. Er studierte in Breslau und Heidelberg und erfuhr den Großteil seiner Weiterbildung bei Ludwig Edinger in Frankfurt. Im Ersten Weltkrieg wurde Goldstein Direktor des Frankfurter Hirnverletzten-Lazaretts, das er als zukunftweisendes Modell einer neurologischen Rehabilitationsklinik gestaltete. Seit dieser Zeit bestand eine enge Kooperation mit dem Psychologen Adhemar Gelb, aus der 16 teilweise bis heute zitierte Publikationen hervorgingen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Goldstein Direktor der Nervenklinik Moabit und Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Berliner Universität. Bereits 1933 emigrierte Goldstein wegen seiner jüdischen Abstammung und sozialistischen Überzeugung zunächst nach Holland, dann in die USA, wo er eine Stiftungsprofessur der Rockefeller-Stiftung erhielt. Kurt Goldstein ist einer der Begründer der Gestalttheorie und Vertreter einer holistischen Sicht des Organismus und der Medizin.

Robert Wartenberg war Assistent in Oberarztfunktion an der Freiburger Nervenklinik und Privatdozent für Neuropathologie und Psychiatrie, als im Frühjahr 1933 das Badische Kultusministerium per Erlass verfügte, „sämtlichen Dozenten und Assistenten, die in Betracht kommen, gegen unterschriftliche Bescheinigung umgehend zu eröffnen, dass sie hiernach mit sofortiger Wirkung von ihrem Dienste beurlaubt werden” [1]. Als „Frontkämpfer” und „ausländischer Kriegsfreiwilliger” (er stammte aus dem russischen Litauen) des Ersten Weltkrieges konnte Wartenberg seine Arbeit nach dem Erlass der „Durchführungsverordnung zum Berufsbeamtengesetz” vorübergehend wieder aufnehmen. Mit der Emeritierung des Klinikdirektors Alfred Hoche (als Protagonist der Euthanasie tragisch instrumentalisiert), der sich für ihn eingesetzt hatte, verlor Wartenberg zunächst seine Stelle, nach dem „Reichsbürgergesetz” von 1935 auch die venia legendi [1]. Er emigrierte nach San Francisco, wo er einer der führenden amerikanischen Neurologen seiner Zeit wurde. Die Albert-Ludwigs-Universität benennt Stationen nach ihren großen Wissenschaftlern und Ärzten, neben Adolf Kussmaul und Richard Jung finden sich auch die Emigranten Siegfried Thannhauser und Robert Wartenberg unter den Namenspatronen.

Auch die dritte Persönlichkeit, deren Werk hier betrachtet wird, war Emigrant. Die Eltern Joseph Babinskis (1857 - 1932) verließen ihre Heimat Polen zu Zeiten ihrer Unterdrückung (1848, der Vater hatte an dem Aufstand teilgenommen). Joseph besuchte die polnische Schule in Paris [2] und machte in Frankreich Karriere als Neurologe. Von seinen vielen meist klinischen Entdeckungen machte ihn eine unsterblich: das Babinski-Phänomen [3].

Sowohl Goldstein als auch Wartenberg haben sich intensiv mit der Bedeutung des Zehenphänomens auseinander gesetzt. Im vorliegenden Heft der Fortschritte berichten Danzer u. Mitarb. [4] über Goldsteins theoretische Einordnung des Babinski-Zeichens. Die entscheidenden Publikationen stammen aus der Zeit des Exils [5] [6]. Goldstein sieht das (bei Säuglingen ja „normale”) Phänomen als Ausdruck einer intakten spinalen Leistung an und versucht diese Leistung in die Funktionalität des Organismus einzuordnen. Auch das geschädigte ZNS ist als funktionales System anzusehen, die Symptome einer Schädigung müssen entsprechend interpretiert werden. Danzer u. Mitarb. [4] ordnen die Auffassung Goldsteins in die medizinische und philosophische Theorienbildung der Zeit ein und zeigen Perspektiven für unser Denken auf.

Robert Wartenberg ist heutigen Neurologen vor allem durch das „Wartenbergsche Zeichen” sowie durch seine Monografie „The examination of reflexes” bekannt, die mit Widmung an Otfried Foerster, „dem Genius der deutschen Neurologie”, in deutscher Übertragung von Heinz Köbcke 1952 im Thieme Verlag erschienen ist [7]. In seinem Vorwort zur deutschen Auflage spricht Wartenberg von der „entschwundenen Epoche, in der die Maxime ‚Observatio summa lex’ führend war”, und davon, dass (bereits damals) die „moderne” Neurologie „zu sehr mit technischen, mechanischen und Laboratoriumsmethoden überladen” sei. Dieses Problem ist auch über 50 Jahre später aktuell.

Der deutschen Ausgabe sind zwei weitere Arbeiten Wartenbergs angefügt, nämlich „Der Babinskische Reflex nach 50 Jahren” ohne Quellenangabe und „Das Brudzinskische und das Kernigsche Zeichen”, die 1950 im Journal of Pediatrics (37 : 679 - 684) im Original erschienen. Die Herausgeber der Fortschritte haben sich entschlossen, die Arbeit über das Babinskische Zeichen, die auch heute noch überaus wichtig erscheint und schwer zugänglich ist, nochmals zu publizieren.

Wartenberg deutet das Babinski-Zeichen als Teil eines Beugesynergismus, den er in Beziehung zur Funktion des Kletterns setzt, und nähert sich hier Goldsteins Ansicht (den er zum Babinski-Phänomen nicht zitiert, jedoch zu Gelenkreflexen der Hand, [7] a. a. O). Er beschreibt, nicht ohne feine Ironie, die Vielzahl namentragender Varianten und kommt zu dem Schluss: „Trotz der endlosen Zahl von Modifizierungen und der bombastischen Behauptungen ihrer Entdecker und Wiederentdecker ist meiner Erfahrung nach die gute alte Methode von Babinski die bei weitem beste und zuverlässigste.”

Dem Autor wurde als Student in London klar demonstriert, dass das Babinski-Zeichen nur am liegenden Patienten optimal erhoben werden kann. Dass gleichzeitig die Vorzüge des Zündschlüssels einer schwedischen Automarke hervorgehoben wurden, ist zumindest empirisch nicht überprüft worden. Auch ein Holz-Mundspatel vermag im Zweifelsfall gute Dienste zu leisten. Wichtig ist, dass es sich um eine tonische Reaktion handelt („die Großzehe muss stehen, nicht kurz hochrucken”), die mit einer Kleinzehenspreizung assoziiert ist (zumindest angedeutet) und dass der adäquate Reiz eine langsame, kräftige Bewegung eines harten Gegenstandes im Bogen vom Sohlenaußenrand zum ersten Zwischenzehenraum ist. Das Zeichen muss im Zweifelsfall reproduzierbar sein.

Wartenberg ist auch aus heutiger klinischer Sicht nur zuzustimmen, wenn er schreibt, dass das Tibialisphänomen von Strümpell „neben dem Babinski-Reflex das wertvollste und zuverlässigste aller Pyramidenbahnzeichen ist” (vom Problem des beidseits positiven Strümpells, das gelegentlich auch bei sonst neurologisch Unauffälligen vorkommt, einmal abgesehen).

Auch in einer Zeit, in der die Aussagekraft struktureller (MR) und funktioneller (EP, TMS) ZNS-Diagnostik gegenüber den Zeiten von Babinski, Goldstein und Wartenberg enorm zugenommen hat, hängt die Qualität der Ergebnisse apparativer diagnostischer Methoden von der Qualität der an sie gerichteten Fragen ab. Der „Babinski” ist mehr als ein Teil eines klinischen Algorithmus, der zur Veranlassung bestimmter Zusatzuntersuchungen führt. Die Kenntnis seiner Funktion und Auftretensbedingungen schärft die klinische Hypothesenbildung. Umgekehrt wird man unter einer begründeten klinischen Hypothese das Zeichen unter optimierten Untersuchungsbedingungen mit Nachdruck suchen und in dieser Situation auch einige der von Wartenberg beschriebenen Varianten einsetzen.

Wartenberg schließt seine Analyse mit folgender Aussage: „Auf den Babinskischen Reflex kann man mit Recht die Feststellung von Mark Twain anwenden: „Es ist etwas Faszinierendes um die Wissenschaft. Der Einsatz von Tatsachen ist so winzig, und der Gewinn an Mutmaßungen so gewaltig”.” Ein unter korrekten Bedingungen als pathologisch erhobenes Babinskisches Zeichen gehört in der Neurologie zur Kategorie der Tatsachen, bedarf dann allerdings weiterer klinischer und ggf. apparativer Aufklärung.

Literatur

  • 1 Seidler E. Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau - Grundlagen und Entwicklungen. Heidelberg: Springer 1991
  • 2 Alajouanine T. Joseph Babinski. In: Kolle K (Hrsg): Große Nervenärzte, Band 2. Stuttgart: Thieme 1959
  • 3 Babinski J. Sur le reflexe cutane plantaire dans certaines affections organiques du systeme nerveux central.  Compt Rend Soc de Biol. 1896;  3 207
  • 4 Danzer G, Schulz A, Walter M, Rose M, Klapp B F. Morphe und Funktion - Kurt Goldsteins Verständnis des Babinski-Phänomens.  Fortschr Neurol Psychiat. 2003; 
  • 5 Goldstein K. The tonic foot response to stimulation of the sole: Its physiological significance and diagnostic value.  Brain. 1938;  61 269-283
  • 6 Goldstein K. The sign of Babinski.  J Nerv Ment Dis. 1941;  93 281-296
  • 7 Wartenberg R. Die Untersuchung der Reflexe. Stuttgart: Thieme 1952

Prof. Dr. C.-W. Wallesch

Klinik für Neurologie · Universität Magdeburg

Leipziger Str. 44

39120 Magdeburg

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