Fortschr Neurol Psychiatr 2003; 71(12): 661-666
DOI: 10.1055/s-2003-45344
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Gesellschaftsbild von Eugen Bleuler - Anschauungen jenseits der psychiatrischen Klinik

The Social Understanding of Eugen Bleuler - His Viewpoint Outside of the Psychiatric ClinicA.  Möller1 , D.  Hell2
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Halle-Wittenberg
  • 2Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Schweiz
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Publication History

Publication Date:
08 December 2003 (online)

Zusammenfassung

Die Arbeit stellt anhand ausgewählter, verschiedenen Schaffensperioden Eugen Bleulers entnommener Schriften ein konsistent erkennbares Konzept von Ethik, Gesellschaftsordnung und Rassenhygiene dar. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass alle sozialen und kulturellen Phänomene nach Bleuler einer rationalen Fundierung durch die in der Natur vorgefundenen Gesetzmäßigkeiten bedürfen. Damit wird zugleich die besondere Stellung der Naturwissenschaft ausgedrückt, die solche Gesetzmäßigkeiten nicht im Sinne einer spekulativen Psychologie oder Philosophie annimmt, sondern aus der Natur „herausliest”. Inhaltlich lässt sich ein materialistisch-religionskritischer Standpunkt identifizieren; die Normenkrise der Zeit könne nur durch vernunftgemäß begründete Ethikregeln einer auf soziale Fragen angewandter Naturwissenschaft gelöst werden. Die Euthanasie ist in bestimmten Fällen schwerer und unheilbarer Krankheit - auch Geisteskrankheit - vorzusehen; Schwachsinn als solcher legitimiere einen derartigen Schritt noch nicht.

Abstract

Based on writings from different periods in the life of Eugen Bleuler, the present work represents a consistent recognizable concept of ethics, social order and race hygiene in his scientific work. These subjects are set by Bleuler in a more general connection of nature and culture; it can be shown that the scientific understanding of social and cultural phenomena is founded on principles which can be easily identified by looking at nature. Bleuler's position is a clear-cut deterministic and materialistic one; the crisis of the post-world-war era can be solved only by rational reasonable ethics rules of a science applied on social questions. Bleuler outlines the general importance of race hygiene; practical consequences of this position remain unaffected. Euthanasia is to be planed in certain cases of difficult and incurable disease - including also mental illness; mental deficiency as such does not legitimize a such step yet.

Literatur

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  • 11 Bleuler E. Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Ethik.  Schweiz Arch Neurol Psychiatrie. 1936;  28 177-206
  • 12 Bleuler E. Mechanismus-Vitalismus-Mnemismus. Berlin: Springer 1931
  • 13 Jagella C. Zwischen Natur und Kultur: Eugen Bleuler und die Sprache des Gehirns - ein Versuch. In: Hell D, Scharfetter C, Möller A (Hrsg.). Eugen Bleuler - Leben und Werk. Bern: Huber 2001: 93-103

1 „Einer der fühlbarsten Widersprüche besteht zur Zeit zwischen der Psychiatrie und den theoretischen Grundlagen des Strafrechts. Unbegründete und einfältige Furcht vor der Verleugnung der Willensfreiheit, auf welch letzterer scheinbar [vom Autor hervorgehoben] das Strafrecht sich aufbaut, macht manche Juristen misstrauisch und ungerecht gegen die aufstrebende Wissenschaft; umso erfreulicher ist es, dass die Praxis den fortgeschrittenen Irrenarzt wie die fortgeschrittenen Juristen da vereinigt, wo sie beide unbekümmert um Theorien das gleiche Ziel verfolgen, die Gesellschaft möglichst vor ihren verbrecherischen Gliedern zu schützen”. [5; S. 4/5].

2 Hier ergeben sich persönliche Beziehungen zu der Familie Bleuler: Es ist durch Quellen belegt, dass eine geisteskranke Schwester in der Familie Eugen Bleulers betreut wurde [6].

3 Es findet sich im Nachlass ein undatierter Druck. Auf ein bestimmtes Publikationsjahr kann nicht geschlossen werden. Auch enthält der Text keine Quellenverweise, die eine Bestimmung zumindest des frühestmöglichen Erscheinungsjahres erlauben würden.

4 „Die Fliege ist da, um der Spinne Nahrung zu geben; die Spinne ist da, um einen in einer Höhle verborgenen Prinzen zu retten, indem sie durch ein Netz vor dem Eingang glauben lässt, da könne niemand hineingegangen sein. Aber warum muss der Prinz gerettet sein?” (ebd.; S. 251)

5 „Heutzutage hat es keinen Sinn, eine Grenze zwischen Naturwissenschaften und anderen Wissenschaften zu machen. Alle realen Objekte, die man studieren möchte, gehören zur Natur (auch Dinge, wie Geschehnisse der Geschichte oder die Sprachen; letztere gehören zur Biopsychologie)”. [12; S. 55].

Priv.-Doz. Dr. Dr. Arnulf Möller

Funktionsbereich Medizinische und Klinische Psychologie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität

Julius-Kühn-Str. 7

06097 Halle

Email: arnulf.moeller@medizin.uni-halle.de

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