Z Sex Forsch 2003; 16(3): 232-246
DOI: 10.1055/s-2003-43536
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Erste sexuelle Erfahrungen von Jugendlichen in sieben postsozialistischen Ländern

Eine Vergleichsstudie[1] I. Bernik, V. Hlebec
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Publikationsdatum:
12. November 2003 (online)

Zusammenfassung

Die Studie geht der Frage nach, ob und in welcher Weise sich die Sexualität von Jugendlichen in postsozialistischen Ländern durch die politischen und kulturellen Transformationsprozesse verändert hat. Lässt sich in postsozialistischen Ländern ein einheitliches Verhaltensmuster in der Sexualität von Jugendlichen nachweisen und weicht dieses Verhaltensmuster von dem in so genannten westlichen Ländern ab? Befragt wurden Schüler weiterführender Schulen in den Hauptstädten von Bulgarien, Kroatien, Polen, der Slowakei und Jugoslawien sowie in Großstädten der tschechischen Republik und Sloweniens. Obgleich die erhobenen Daten, wie die Autoren selbstkritisch anmerken, eine Verallgemeinerung über die Jugendsexualität in postsozialistischen Ländern nicht zulassen, legen die Ergebnisse der Studie nahe, dass es in diesen Ländern kein einheitliches Muster in der Sexualität von Jugendlichen gibt. Auch wiesen die vorgefundenen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern keine klare, soziologisch interpretierbare Struktur auf. Und es fanden sich, was die grundlegenden Merkmale beim ersten Geschlechtsverkehr anbelangt, keine systematischen Differenzen zwischen den analysierten postsozialistischen Ländern und den Daten aus Studien westlicher Länder.

1 Aus dem Englischen von Silja Matthiesen, Hamburg

Literatur

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1 Aus dem Englischen von Silja Matthiesen, Hamburg

2 Diese allgemeine Hypothese lässt sich auf alle postsozialistischen Gesellschaften anwenden. Nichtsdestotrotz ist es wichtig zu berücksichtigen, dass sich diese Gesellschaften in vielerlei Hinsicht unterscheiden und diese Unterschiede sich auch in den vorherrschenden Mustern des Sexualverhaltens niederschlagen sowie in der Dynamik ihrer jeweiligen Veränderungen.

3 Mit Anthony Giddens definieren wir Reflexivität als die Fähigkeit von Individuen, ihre eigenen Gedanken und Handlungen ebenso wie ihren psychischen und sozialen Kontext steuernd zu beobachten (Ritzer 1996 : 529). Sexuelle Reflexivität steht in engem Zusammenhang mit einer neuen Kodifizierung der Sexualität, die, so Gunter Schmidt etal. (1994 : 511), unter anderem darauf zielt, sexuelle Begegnungen freundlicher, kommunikativer, vorhersehbarer, rationaler und verhandelbarer zu machen.

4 Die Daten wurden gewichtet, um die Altersunterschiede der Befragten zu kontrollieren.

5 Der außergewöhnlich niedrige Anteil koituserfahrener Jugendlicher in Kroatien erklärt sich zum Teil durch spezielle Bedingungen des kroatischen Schulsystems (zum Zeitpunkt der Untersuchung). Schüler, die besonders strenge, leistungsorientierte Schulen besuchten, waren in der kroatischen Stichprobe überrepräsentiert.

6 Daten aus Polen liegen zu dieser Frage leider nicht vor.

7 Interessanterweise variiert der Anteil der Befragten (unabhängig vom Geschlecht), die Verhütungsmittel benutzten, erheblich zwischen den Untersuchungsländern (vgl. Tab. [4]). In Polen, der Tschechischen Republik und Kroatien waren es etwa zwei Drittel, in Slowenien und der Slowakei etwas mehr als die Hälfte, während es in Bulgarien und Jugoslawien deutlich weniger als 50 % waren (42 % und 35 %). In unserer Stichprobe erreicht nur Polen mit 77 % der Befragten, die beim letzten Geschlechtsverkehr verhütet haben, ein ähnliches Niveau wie westliche Länder - hier liegt der Prozentsatz etwa bei 80 % (vgl. Knopf und Lange 1993 : 146; Nöstlinger und Puchinger 1994 : 139). Auch wenn zwischen westlichen Ländern deutliche Unterschiede bestehen - eine italienische Untersuchung ergab, dass weniger als 70 % der Befragten beim ersten Geschlechtsverkehr verhütet haben und der Anteil von „Coitus interruptus” sehr viel höher lag als in Deutschland oder Österreich -, so hinken doch die meisten postsozialistischen Länder dem Westen in dieser Hinsicht hinterher.

8 19 % der deutschen Jungen gaben an, dass die Initiative von ihnen ausgegangen sei, 26 % schrieben sie ihrer Partnerin zu und 54 % berichteten, sie sei von beiden ausgegangen. Die entsprechenden Zahlen für die Mädchen sind 16 %, 49 % und 36 %.

9 Die multivariate MCA (Andrews etal. 1973) bietet verschiedene Koeffizienten an, die beschreiben, wie stark der Index der Zufriedenheit in Abhängigkeit von einer unabhängigen Variablen vom Mittelwert der Zufriedenheit abweicht, wobei der Effekt der anderen unabhängigen Variablen kontrolliert wird. Zwei Maßzahlen für den Gesamteffekt jedes Prädiktors werden errechnet: der MCA-Eta und der MCA-Beta. Der MCA-Eta-Koeffizient misst die Stärke der bivariaten Beziehung zwischen einer abhängigen Variable und einem Prädiktor. Der MCA-Beta-Koeffizient wiederum misst die Stärke der Korrelation, indem er alle anderen Prädiktoren im Modell kontrolliert. Die Rangreihe der Beta-Koeffizienten beschreibt die relative Wichtigkeit eines Prädiktors und seine Erklärungskraft für die abhängige Variable. Die multiple R2-Analyse schließlich schätzt den Anteil der Varianz, die von allen Prädiktoren zusammengenommen erklärt werden kann. Den multivariaten Ergebnissen einer MCA liegt ein additives Modell zugrunde, weshalb sie wie folgt interpretiert werden können: Der Durchschnitt des Index für Zufriedenheit mit dem ersten Geschlechtsverkehr liegt bei 1.60. Für ein bulgarisches (-.13) Mädchen (-.28), das religiös ist (-.09), regelmäßig die Kirche besucht (-.09), deren erster Geschlechtsverkehr nicht geplant war (-.07) und vor allem durch die Initiative ihres Partner zustande kam (-.26) und die keine Verhütungsmittel angewandt hat (-.07), beträgt die durchschnittliche Zufriedenheit 0.61. Oder andersherum: Ein männlicher Befragter (.26) aus Kroatien (.49), der nicht religiös ist (.10) und nie die Kirche besucht (-.06), dessen erster Geschlechtsverkehr geplant war (.14) und auf der gemeinsamen Initiative von ihm und seiner Partnerin beruhte (.10) und der während dieses Geschlechtsverkehrs verhütet hat (.06), hat einen durchschnittlichen Zufriedenheitsindex von 2.69.

Prof. Dr. Ivan Bernik
Ph. D. Valentina Hlebec

University of Ljubljana · Faculty of Social Sciences

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Slovenia

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