Psychiatr Prax 2003; 30(7): 353-354
DOI: 10.1055/s-2003-43252
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Stigmatisierung psychisch Kranker ist Teil unserer Kultur

Ein Aufruf zu ihrer ErforschungThe Stigmatisation of the Psychiatrically Sick is Part of Our CultureAn Appeal for the Investigation of this PhenomenonUlrike  Hoffmann-Richter
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
30. Oktober 2003 (online)

Jede Fachdiskussion wird von Zeit zu Zeit von einem bestimmten Thema dominiert, das den Blick auf den Rest des Fachgebietes prägt: Aus dem Blickwinkel der Psychiatriereform standen soziologische Aspekte psychischen Krankseins im Vordergrund. Verkürzt gesagt wurden psychische Erkrankungen zum Label. Die psychodynamische Welle spitze sich in der Erklärung zu, dass alles Erziehung sei; die biologische Welle pendelt weiter zwischen Rezeptoren und Genen. Mit etwas Distanz von der Ursachenforschung könnte man zur Überzeugung kommen, dass der archimedische Punkt psychischen Krankseins in seiner Stigmatisierung liegt: Die „erste” Krankheit wird bewältigt, die „zweite” zur lebenslangen Begleiterin. Fachliche Hilfe wird nicht oder zu spät in Anspruch genommen, weil die Möglichkeit an einer psychischen Erkrankung zu leiden verdrängt wird. Der erste fachärztlichen Kontakt über die Behandlung bis hin zur Versorgung der Bevölkerung, zur Gesundheitsökonomie und zur neu erwachten Frage des Lebenswerts, ganz zu schweigen vom alltäglichen Leben mit der Krankheit sind geprägt von der Stigmatisierung und ihren Folgen.

Trifft diese Annahme zu, ist Stigmatisierung keine Angelegenheit, die durch Informationsveranstaltungen, einen Besuch psychisch Kranker in der Schule, die Ausstrahlung einer Fernsehserie oder die Thematisierung im Spielfilm zu verändern wäre. Das heißt nicht, dass die Kontaktaufnahme zur lokalen Presse nutzlos wäre; dass Informationsveranstaltungen und Initiativen zur Entstigmatisierung nicht stattfinden sollten. Es heißt aber, dass ihr Ziel nicht in kurzfristigen Effekten, sondern in geduldiger und beharrlicher Kärrnerarbeit liegt. Wenn Prozesse der Stigmatisierung den Alltag psychisch Kranker, ihrer Familien und zu einem gewissen Grad auch psychiatrischer Institutionen prägen, sind sie Teil unseres Alltags. Das ist es, was die großen Feldstudien und eine Reihe grundlegender Arbeiten gezeigt haben: Stigmatisierung psychischen Krankseins ist - ob wir es wollen oder nicht - Teil unserer Kultur [1] [2] [3] [4].

Dies ist auch der Hintergrund, auf dem Veranstaltungen, Studien, Projekte und Befragungen verstanden und ausgewertet werden müssen. Kurzfristige Effekte sind gut untersuchbar. Sie eignen sich als Ergebnis überschaubarer Studien oder Begleituntersuchungen von Veranstaltungen. Weiter reichende Aussagen sind auf ihrer Grundlage aber nicht möglich.

Wissenschaftliche Fachzeitschriften leben von ihren Originalarbeiten. Sie bringen den Impact und den Autoren, die sie publizieren das wissenschaftliche Renommee. Der Seitenumfang für die einzelnen Publikationen ist begrenzt. Die Einordnung des Studienergebnisses muss in der Einleitung mit Literaturzusammenfassung und in der Diskussion Platz finden. Es ist kein einfaches Unterfangen, in Kürze darzustellen, wofür die Studie gut ist, und was die Leserin weiß, wenn sie sie zur Kenntnis genommen hat. Diese Gepflogenheit des Publizierens hat einen großen Vorteil: Sie konzentriert sie auf empirische Arbeiten. Dies entspricht unserer derzeitigen Vorstellung dessen, was wissenschaftliche Tätigkeit ausmacht. Die Gepflogenheit hat aber auch einige Nachteile: Erstens ist es kaum möglich, komplexere Zusammenhänge zu erläutern, in unbekannte Themen einzuführen oder unbekannte Methoden ausführlich darzustellen. Langzeitstudien sind noch weniger gefragt, da sie auch ohne das Publikationsmanagement wegen ihrer Aufwendigkeit und der notwendigen Ausdauer schon ins Hintertreffen geraten sind. Drittens finden Diskussionen - die Ausführung fachlicher Überlegungen, die Darstellung von inhaltlichen, methodischen oder politischen Entwicklungen im Fachgebiet, die Äußerung und Begründung von Meinungen - keinen geeigneten Platz. Sie kommen zu kurz oder werden verschämt in der Einleitung oder Diskussion der empirischen Arbeit versteckt. Es ziemt sich nicht, über die Motivation zur Durchführung einer Studie zu sprechen.

Bei diesen Nachteilen muss es nicht bleiben, wenn man sie erst einmal erkannt hat. Folgende Angebote eröffnen sich auch beim derzeitigen Publikationswesen: Diskussionsbeiträge sind eine eigene Textgattung. Sie sind erwünscht und finden in der Rubrik „Fortbildung und Diskussion” ihren Platz. Die Sozial- und Kulturwissenschaften haben Methoden entwickelt, mit deren Hilfe sich thematische, politische oder methodische Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft wie eines Fachgebietes untersuchen und beschreiben lassen [5] [6] [7]. Literaturübersichten sind anspruchsvolle Arbeiten mit unterschiedlichen Analyseansätzen, die man sich aneignen kann. Langzeitstudien oder komplexe Zusammenhänge können in Etappen erscheinen, beispielsweise in Form einer Literaturübersicht zum Thema, einer methodischen Arbeit und Ausschnitten aus den Studienergebnissen.

Sich von der Fokussierung auf kurzfristige Originalarbeiten zu lösen lohnt sich für Autorinnen und Autoren ebenso wie für Fachzeitschriften. Für die verschiedenen Arbeitsschritte wissenschaftlicher Tätigkeit stehen unterschiedliche Textgattungen zur Verfügung. Der Wahrnehmungs- und Denkhorizont öffnet sich mit der Vielfalt der Zugänge. Wenn die Stigmatisierung psychisch Kranker Teil unserer Kultur ist, ist das kein Grund zur Resignation. Dann sind wir aufgefordert an ihr zu arbeiten. Die laufenden Aktivitäten erhalten dadurch eine andere Bedeutung. Bei der Organisation von Veranstaltungen, beim Engagement für Fernsehsendungen oder der Publikation von Zeitungsartikeln geht es nicht primär um Information, sondern um Arbeit an der - an unserer Kultur. Um all dies gezielt tun zu können, müssen wir sie genauer erforschen: Wann und wie beginnt sich jemand von einem psychisch kranken Menschen zu distanzieren? Auf welche Weise? Wann werden Informationen aufgenommen und wann nicht [8]? Wann und wie setzen sich Mechanismen der Stigmatisierung fest und werden gepflegt? Wie kommt es zu kurzfristigen negativen Reaktionen und was bedeuten sie [9]? Die Psychiatrische Praxis wird das Thema fortsetzen und lädt Autorinnen und Autoren in diesem Sinne zu weiteren Berichten über Aktivitäten, zum Nachdenken und Publizieren ein.

Literatur

  • 1 Cumming J, Cumming E. Closed Ranks. An experiment in mental health. Cambridge/MA; Harvard University Press 1957
  • 2 Jodelet D. Soziale Repräsentation psychischer Krankheit in einem ländlichen Milieu in Frankreich. Entstehung, Struktur, Funktion. In: Angermeyer MC, Zaumseil M Verrückte Entwürfe. Bonn; Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie Verlag 1997: 262-298
  • 3 Wahl O F. Media Madness. Public Images of Mental Illness. New Brunswick; Rutgers University Press 1995
  • 4 Hoffmann-Richter U. Psychiatrie in der Zeitung. Urteile und Vorurteile. Bonn; Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie Verlag 2000
  • 5 Keller R, Hirseland A, Schneider W, Viehöver W. Handbuch sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse Band 1. Opladen; Leske und Budrich 2001
  • 6 Keller R, Hirseland A, Schneider W, Viehöver W. Handbuch sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse Band 2. Opladen; Leske und Budrich 2003
  • 7 Wengeler M. Topos und Diskurs. Begründung einer Argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960 - 1985). Tübingen; Niemeyer 2003
  • 8 Kroll M, Dietrich S, Angermeyer M C. Die Darstellung der Depression in deutschen Tageszeitungen.  Psychiat Prax. 2003;  30 367-371
  • 9 Baumann A, Zaeske H, Gaebel W. Das Bild psychisch Kranker im Spielfilm: Auswirkungen auf Wissen, Einstellungen und soziale Distanz am Beispiel des Films „Das weiße Rauschen”.  Psychiat Prax. 2003;  30 372-378
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