Gesundheitswesen 2003; 65(10): 566-571
DOI: 10.1055/s-2003-43003
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Leitlinienumsetzung bei der Untersuchung und Behandlung permanent schwerhöriger Kinder

Guidelines and their Practical Application in Congenital Hearing LossM. Schuster1 , P. Kummer1 , U. Hoppe1 , U. Eysholdt1 , A. Weber2 , F. Rosanowski1
  • 1Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinikum der Universität Erlangen-Nürnberg
  • 2Arzt für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Erlangen
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Publication Date:
22 October 2003 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: Eine angeborene Hörminderung kann bei einem Kind neben dem Spracherwerb die gesamte intellektuell-kognitive und seelische Entwicklung und damit seine soziale Integration behindern. Durch einen komplexen interdisziplinären Prozess kann diese Behinderung zumindest teilweise kompensiert werden: Die Versorgung mit Hörgeräten ist bei diesen Kindern bei frühzeitiger Diagnose die medizinische Erstbehandlung der Wahl, nur bei Diagnosestellung jenseits des ersten Lebensjahres und im Falle einer sehr ausgeprägten Schwerhörigkeit kommt die unmittelbare operative Ausstattung mit einem Cochlea-Implantat in Betracht. Die Untersuchung und Behandlung (angeborener) kindlicher Schwerhörigkeiten ist in nationalen und internationalen Leitlinien unterschiedlicher methodischer Qualität festgelegt. In dieser Studie wird die Umsetzung der Leitlinien anhand von drei Jahrgängen von in der berichtenden Abteilung erstmals mit Hörgeräten versorgten schwerhörigen Kindern mit ihren Möglichkeiten und Grenzen dargelegt und diskutiert.

Methoden: Aktengestützt ausgewertet wurden retrospektiv erhobene klinische Daten von in den Jahren 1997 bis 1999 von 107 stationär mit Hörgeräten versorgten Patienten. Als Referenz zur Frage des leitlinienbasierten Vorgehens dienten die einschlägige deutsche und US-amerikanische Leitlinie zur (angeborenen) kindlichen Schwerhörigkeit.

Ergebnisse: Im Kollektiv von 53 Mädchen und 54 Jungen hatten 45 % der Kinder eine hochgradige oder an Gehörlosigkeit grenzende Schwerhörigkeit, 45 % eine mittelgradige und 10 % eine geringgradige. 93 Kinder hatten eine sensorineurale, 8 eine kombinierte und 2 eine Schallleitungsschwerhörigkeit, bei zweien bestand eine einseitige, bei einem Kind auf einem Ohr eine kombinierte und auf dem anderen eine sensorineurale und bei einem Kind bestand eine zentrale Schwerhörigkeit. Der Zeitpunkt der Erstdiagnose hing vom Grad der Schwerhörigkeit sowie von sozialen Auffälligkeiten ab. Es lagen unterschiedliche Risikoprofile für eine kindliche Schwerhörigkeit vor. Auffällig war der ungewöhnlich große Anteil syndromaler Schwerhörigkeiten bzw. der Anteil mehrfach behinderter Kinder. Das audiologische Ergebnis der Hörgeräteversorgung war nur in Fällen einer an Gehörlosigkeit grenzenden Schwerhörigkeit „unbefriedigend”.

Diskussion: Auch auf der Basis der dargelegten Daten ist die Notwendigkeit eines universellen Hörscreenings Neugeborener zu unterstreichen. Die in der amerikanischen Leitlinie formulierten Richtgrößen („Benchmarks”) für die Untersuchung und Behandlung (angeborener) kindlicher Schwerhörigkeiten sind strenger als die in der derzeit überarbeiteten deutschen. Auch wenn sich v. a. bedingt durch nicht allgemeingültig definierte Schnittstellen zu Berufsgruppen bzw. Institutionen aus dem nicht primär audiologischen Umfeld z. T. gravierende Defizite bei der Umsetzung der strengen Vorgaben aufzeigen lassen, so z. B. bei den zeitlichen Vorgaben zum Neugeborenenhörscreening oder zum zeitlichen Abschluss einer Hörgeräteversorgung, sollte vor der Motivation zur Qualitätsoptimierung hinter diese begründeten strengen Standards nicht zurückgegangen werden. Dies sollte bei der Überarbeitung der aktuellen deutschen Leitlinie beachtet werden. Die Behinderten- und Sozialfürsorge bzw. die Sozialpädiatrie haben der Tatsache Rechnung zu tragen, dass bei mehrfach behinderten Kindern und solchen aus auffälligen sozialen Verhältnissen die Schwerhörigkeit noch später als bei anderen Kindern diagnostiziert wird. Unverständlich ist, dass auch Kinder, selbst wenn sie unter auf eine Schwerhörigkeit hinweisenden Vorerkrankungen und Syndromen leiden, sehr spät diagnostiziert werden. Bei Kindern mit einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit muss das Behandlungskonzept mit der bei frühzeitiger Diagnose zunächst erforderlichen Versorgung mit Hörgeräten vor der Frage einer ausreichenden Sprachkompetenz geprüft und ggf. in Richtung einer Innenohrprothese (Cochlea-Implantat) verändert werden.

Abstract

Background: Permanent congenital hearing loss in children does not only influence speech acquisition but also has a severe impact on the entire intellectual and psychological development, and thus social integration is handicapped. However, at least partial compensation can be achieved by complex rehabilitative measures. One of the first medical therapies in children with congenital hearing loss is to equip them with hearing aids. As part of quality management the purpose of this study is to discuss pedaudiological aspects and results of hearing - impaired children equipped with hearing aids against the background of guidelines from Germany and the US.

Methods: Data of 107 children equipped with hearing aids from 1997 to 1999 were analysed referring to the relevant German and US guideline.

Results: In 53 girls and 54 boys, 45 % were suffering from at least severe, 45 % from moderate and 10 % from mild hearing loss. 93 children presented sensory hearing loss, 8 combined and 2 conductive hearing loss. 2 children had unilateral hearing loss, one a combined on one ear and a sensory hearing loss on the other and one child had a central auditory processing disorder. The age when the hearing loss was diagnosed depended on its grade and correlated with adverse environmental aspects. 34 children suffered from a syndrome or multiple handicaps, in these cases, the hearing loss was diagnosed at a later date than in children suffering from hearing loss only. In cases with near deafness audiological results with hearing aids were not sufficient; in these cases, cochlea implantation had to be discussed as an alternative measure.

Conclusion: The data obtained from this study underline the need for universal hearing screening. Discussing the data against the relevant German and US guidelines clearly shows that German benchmarks are not as strict as the American ones. This has to be taken into account for further guideline development in Germany. As permanent hearing loss in children with syndromes and multiple handicaps and children with adverse environment is diagnosed at a later date than in other children public, measures have to be taken to improve this situation.

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  • 21 Rosanowski F. Persönliche Mitteilung. 

Dr. med. Maria Schuster

Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinikum der Universität Erlangen-Nürnberg

Bohlenplatz 21

91054 Erlangen

Email: maria.schuster@phoni.imed.uni-erlangen.de

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