Krankenhauspsychiatrie 2003; 14(3): 89-90
DOI: 10.1055/s-2003-42677
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Glückliche Entpsychiatrisierte? Oder: Unglückliche Endgelagerte?

Happily Discharged or Unhappily Stored Away for EverH.-M.  Zöllner1
  • 1Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich/Schweiz
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
30. September 2003 (online)

Ich mache oft Besuche im Pflegeheim S. Es leben inzwischen etwa 30 Langzeitpatienten aus dem Burghölzli dort; die meisten von ihnen kenne ich persönlich, viele sehr gut und lang. Mein Gesamteindruck ist, dass man eine ‚Drittelsregel’ aufstellen könnte: Dem ersten Drittel der Patienten geht es gut oder sogar besser; dieser Teil hat die Verlegung gut verdaut, vielleicht sogar selbst gewollt, ist mit der Behandlung zufrieden. Ein weiteres Drittel der Patienten ist unverändert: Depressive, resignative, aggressive Restzustände der Krankheit, die schon bei uns in der Klinik bestanden, bestehen weiter. Ein letztes Drittel leidet unter der Verlegung: Diese Patienten wollten gar nicht vom Burghölzli weg, fügten sich schließlich dem Verlegungsdruck. Sie haben immer noch Heimweh nach der Klinik, in der sie gerne bis zu ihrem Lebensende geblieben wären. Die psychiatrische Betreuung kann in S. nicht so gut und vollständig und fachmännisch sein wie in einer Klinik; es sind nicht alle Spezialtherapien vorhanden, die eine Klinik anbieten kann; das Pflegepersonal hat nur zum Teil eine psychiatrische Fachausbildung; die ärztliche Versorgung machen Allgemeinpraktiker aus der Umgebung, die psychopharmakologisch nicht immer kompetent sind, auch wenn sie einen durchaus warmen und menschlichen Kontakt zu den Patienten pflegen. Eigentliche Vertrauenspersonen im Sinne konstanter psychotherapeutischer Gesprächspartner gibt es kaum oder gar nicht. Oft habe ich erlebt, dass unsere Austrittsmedikation ‚stehenblieb’ und nicht dem Zustandsbild angepasst wurde. Manche Patienten haben mir flehentliche Briefe geschrieben, ich möge mich um sie kümmern und mich einschalten. Es bräuchte in solchen Heimen viel mehr Fachsupervision im Sinne eines gut funktionierenden Konsiliardienstes. Zu uns zurückverlegte Patienten gehen meist nicht gerne wieder nach S.: Sie wollen am liebsten wieder für immer in der Klinik bleiben. Fast alle können sagen, an was es ihnen in S. gemangelt und was die Klinik besser gemacht hat. Das ‚gute Drittel’ fühlt sich nach einer gewissen Anpassungszeit im Heim S. wohl. Diese Patienten schätzen, dass sie ‚entpsychiatrisiert’ sind; die Ferne zur Stadt macht ihnen nichts aus, weil sie auch früher nicht die Gesellschaft von Menschen suchten. Sie sehen lieber einen Körperarzt als einen Seelenklempner; und sie wollen lieber in Ruhe gelassen werden als den ganzen Tag Therapieprogramme zu absolvieren.

Dennoch ist es ein Skandal und eine Katastrophe, dass man unbesehen alle Langzeitpatienten aus der Klinik in Heime verlegt.

Ein erheblicher Teil der Psychiatriepatienten ist sozusagen „chronisch akut” und benötigt lebenslang Klinikbehandlung. Verlegt man diese Patienten gegen ihren Willen in Heime oder ähnliche Institutionen, macht man entweder aus ihnen „resignierte Wracks” oder „Drehtürpsychiatriepatienten”.

Dr. phil. Hans-Martin Zöllner

Lt. Psychologe · Psychiatrische Universitätsklinik

Lenggstr. 31

8029 Zürich/Schweiz

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