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DOI: 10.1055/s-2003-41846
Wieder Interesse an Menschen und Phänomenen entwickeln
Publication History
Publication Date:
03 September 2003 (online)

PiD: Lange Zeit haben in der Verhaltenstherapie Richtungen dominiert, die die These vertraten, dass Zwangsverhalten auf einem Lerndefizit und Erfahrungsdefizit beruhe, dass nämlich die vom Patienten antizipierten Katastrophen gar nicht eintreten. Das heißt, PatientInnen haben demnach zu selten die Erfahrung gemacht, dass ein Weglassen von bestimmten Handlungen oder Tätigkeiten nicht zu den befürchteten Katastrophen führt. So wie ich es verstanden habe, vertreten Sie ein etwas differenzierteres Bild von Zwangserkrankungen?
N. Hoffmann: Ja, wenn wir uns über Zwangserkrankungen unterhalten, haben wir es mit Störungen zu tun, die immer aus zwei Anteilen bestehen. Auf der einen Seite haben wir die Bedrohungsseite und auf der anderen Seite haben wir die Abwehrseite. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Teile entsteht die Dynamik von Zwangserkrankungen. Die Auffassung, dass Zwangserkrankungen dadurch geheilt werden können, dass PatientInnen die Erfahrung machen, dass Katastrophenerwartungen nicht eintreten, kann nicht der Dreh- und Angelpunkt einer Therapie sein. Es gibt Zwangsstörungen, bei denen Katastrophenerwartungen überhaupt keine Rolle spielen oder so unbestimmt sind, dass eine Korrektur durch die Erfahrung nicht möglich ist. Beispielsweise kann ein Patient die Vorstellung haben, dass er, wenn er etwas berührt, das mit Tod zu tun hat, dies etwas Negatives für seine Zukunft oder aber auch für eine von ihm geliebte Person bedeuten könne. Diese Befürchtung ist von einem so niedrigen Konkretisierungsgrad und von einer so großen zeitlichen Unbestimmtheit geprägt, dass eine Widerlegung durch Erfahrung überhaupt nicht möglich ist. Wir haben also auf der Bedrohungsseite meist starke Emotionen und durchweg negative Kognitionen, aber wir finden nicht immer konkrete Katastrophenerwartungen, die für uns Außenstehende die innere Misere der Zwangskranken plausibel erscheinen lassen.
PiD: Das heißt also: Bei einem Patienten mit starken Zwangsgedanken bezüglich der Farbe Schwarz (Beerdigung, Tod usw.) macht es in Ihren Augen keinen Sinn, Expositionen bezüglich dieser Farbe vorzunehmen, auf Friedhöfe zu gehen oder andere Übungen mit dieser Farbe zu suchen?
N. Hoffmann: Therapeutische Expositionen mit isolierten Stimuli wie schwarze Kleidung oder Blut generalisieren in der Regel nicht auf die realen kritischen Lebenssituationen der Patienten. Expositionen, bei denen dies der Fall ist und die daher nützlich sind bei solchen Fällen, bestehen immer darin, dass der Patient direkt natürliche Situationen seines Lebens aufsucht, bei denen die kritischen Stimuli eine Rolle spielen. Dabei lernt er sie wieder auf eine neue Art und Weise in seinem Inneren zu organisieren und schließlich zu meistern. Allein die Konfrontation mit der Farbe Schwarz in einem künstlichen Setting nutzt nicht viel, weil die Farbe nur dann ihre Unheil bringende Bedeutung für den Kranken hat, wenn sie in Situationen auftritt, die für ihn persönlich relevant sind und die in seinem Leben integriert sind.
PiD: Wenn wir uns die subjektive Erfahrungsseite von ZwangspatientInnen ansehen, unterscheidet sie sich stark von dem System, das wir zum Bewältigen ähnlicher Situationen verwenden. Wie sinnvoll ist es, Plausibilitäten, Wahrscheinlichkeiten, rationale Überlegungen bei Gedanken- und Handlungszwängen therapeutischerseits einzubringen?
N. Hoffmann: Ich halte solche Interventionen für weitgehend nutzlos und ich will Ihnen ein Beispiel geben. Der ärgste Fehler, den wir im Umgang mit diesen Patienten machen können, ist folgender: Wir nehmen an, dass wesentliche seelische Abläufe sich bei Zwangskranken genauso abspielen müssen wie bei uns. Wenn wir irgendwelche Bedenken oder schlechten Gefühle wie Angst haben oder bei der Berührung mit bestimmten Substanzen oder schon bei dem Gedanken daran Ekel empfinden, so gehen wir üblicherweise davon aus, dass es etwas mit einer Angst vor Ansteckung, mit Krankheit oder dergleichen zu tun hat. Wenn wir Zwangskranken immer und automatisch solche Gedankengänge und solche Erwartungen unterstellen, so gehen wir an deren innerer Realität vorbei. Viele leiden an einem unbestimmten Ekel ohne großen kognitiven Inhalt, und von daher sind Wahrscheinlichkeitsberechnungen von Ansteckungsgefahren oder Überlegungen zur Widerlegung von Risiken weitgehend überflüssig. Sie haben eben nicht bloß normale oder nachvollziehbare, wenn auch übertriebene Ängste vor Umweltgiften oder Ansteckung, wie wir sie haben, sondern es geht bei ihnen um etwas ganz anderes. Sie kämpfen in ihrem Leben nicht um Hygiene, Reinlichkeit oder Sauberkeit in unserem Sinne, sondern um eine Art Reinheit und Unbeflecktheit. Das Widerwärtige bedroht sie von allen Seiten und sie müssen endlos dagegen ankämpfen.
PiD: Müssen wir uns diesen unbestimmten Ekel bei Zwangspatienten in Abgrenzung zu den gezielten Befürchtungen oder Ängsten vor dem Eintreten einer schlimmen Erfahrung physiologisch gesehen als ein permanent erhöhtes allgemeines Arousal konzipieren, das sich auf diese Art und Weise über den Zwang eine Abfuhr verschafft?
N. Hoffmann: Das ist ein sehr interessantes Modell, das auf Beech und Perigault zurückgeht. Ähnliche Gedankengänge haben schon in der älteren deutschen Psychiatrie eine Rolle gespielt. Dort gab es zwei Schulen: Die einen hielten die Zwangserkrankungen für gedankliche Störungen, die anderen hielten sie für primäre Affektstörungen. Das Beech- und Perigault-Modell besagt, dass Zwangskranke in bestimmten Lebenssituationen vermehrt an unbestimmten negativen Gefühlen bis hin zu ausgesprochenen Katastrophenstimmungen leiden. Nun versuchen sie etwas zu finden, auf das sie mit einiger Berechtigung diese Gefühle attribuieren können. Das ist exakt das, was Patienten beschreiben: Sie berichten Ihnen, dass sie, meist im Anschluss an krisenhafte Entwicklungen, angefangen haben, sich vor der Begegnung und vor allem der Berührung mit bestimmten Menschen zu ekeln. Dann fragten sie sich, woher das kommen könne und was denn sein könne mit diesen Menschen, die ihnen so zuwider sind. Sie finden keine plausible Antwort darauf. Häufig bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre negativen Gefühle nach den gängigen Ängsten, die im Zentrum des gesellschaftlichen Bewusstseins stehen, zu rationalisieren. Dann können sie das Ganze erst mal für sich selber einigermaßen kongruent einordnen, und ab dem Moment versuchen sie eben die Berührung mit HIV-Trägern und ähnlichem zu vermeiden. Es muss nicht weiter betont werden, dass Therapeuten und Therapeutinnen als „normale” Menschen mit dieser Interpretation der Ereignisse zufrieden sind und sie noch verstärken.
PiD: Bedeutet dies, dass wir zum Verstehen von Zwangsstörungen nicht unbedingt ein auslösendes Ereignis oder eine Art von Traumatisierung benötigen, sondern dass es sich dabei auch um ein Problem einer allgemein erhöhten biochemischen Gehirnaktivität in bestimmten Arealen handeln kann?
N. Hoffmann: Es gibt sehr wohl Hinweise auf eine abnorme Gehirnaktivität. Doch die muss nicht endogen sein. Wir finden bei vielen PatientInnen, dass die Zwangserkrankung in einer Lebensphase entsteht, die durch ein sehr starkes exogen bedingtes, emotionales Arousal gekennzeichnet ist. Es tritt dann eine ganze Palette von Gefühlen auf, mit denen die Betroffenen schwer umgehen können. Meine Mitarbeiterin Birgit Hofmann und ich sprechen von einer Konfusion und Implosion der Gefühle. Im Rahmen der sich anschließenden Suche nach irgendwelchen Kontrollmöglichkeiten kommt es dann zu einem meist ganz banalen Erlebnis, bei dem die Weichen gestellt werden für die spätere Entwicklung der Zwangserkrankung. Das Bemerken von Silberfischen z. B. in einer kritischen affektgeladenen Situation kann dazu führen, dass dieser Stimulus zum Symbol für das Böse, Unreine und negativ Invasive dieser Welt wird. Die „Auswahl” dieser Substanz ist meist zufällig. Sie muss sich nur dazu eignen - in dem Sinne, dass sie von vorne herein eher negative Assoziationen erweckt, überall sein kann und potenziell überallhin weiter verbreitet werden kann.
PiD: Wenn wir es auf der emotionalen Ebene bei Zwangspatienten mit dem Auftreten überwiegend negativer Emotionen zu tun haben, wäre dies auch ein Hinweis darauf, dass als eine Aufgabe der Therapie die Stärkung positiver Emotionen im Mittelpunkt stehen könnte?
N. Hoffmann: Das ist eine unserer großen Kritikpunkte an den gängigen Expositionsmodellen, die nach Meinung von Birgit Hofmann und von mir zu sehr auf die negativen Reaktionen des Patienten fokussieren. Dieses Phänomen finden wir schon bei Ängsten, und das setzt sich bei Zwängen fort. Wenn Sie z. B. einen Menschen mit einer Panikerkrankung behandeln, und dieser soll sich im Rahmen einer Exposition in ein Kaufhaus begeben, und wenn dieser Mensch dann anfängt, sich wieder auf eine natürliche Art und Weise für das zu interessieren, was im Kaufhaus zu sehen ist, für die Menschen und die Waren und dabei Assoziationen positiver Art generiert, Wünsche äußert usw., dann würden die meisten Therapeuten kritisch bemerken, der Patient fange an zu vermeiden, weil er sich nicht einzig und allein mit seiner Angst beschäftigt. Wir aber behaupten im Gegenteil dazu, dass es eine außerordentlich positive Angelegenheit ist, wenn der Patient in einer für ihn kritischen Situation anfängt, sich wieder nach seinen natürlichen Bedürfnissen und seinen positiven Werten zu richten.
PiD: Also ein Argument, das nicht nur für die Behandlung von Zwangserkrankten gelten kann.
Für wie wichtig halten Sie die neueren neurobiologischen/biochemischen Erkenntnisse inklusive der bildgebenden Verfahren? Wie ordnen Sie diese Entwicklung für die Zukunft der Behandlung von ZwangspatientInnen ein und passen die bisherigen Befunde zu Ihren Modellen?
N. Hoffmann: Sie stehen sicher nicht im Widerspruch zu unserem Modell und die Bedeutung, die sie einnehmen können, kann man nicht hoch genug einschätzen. Doch ich weiß, dass wir heute schon in der Lage sind mit etwas differenzierteren psychologischen Verfahren den meisten Patienten sehr gut zu helfen.
PiD: Nachdem ein psychoanalytischer Kollege und Lehranalytiker einmal ein Videoband mit einer verhaltenstherapeutischen Expositionsbehandlung gesehen hat, war er ganz erstaunt und sagte, das was ihr da macht, ist ja die Herstellung einer ganz intensiven therapeutischen Beziehung. Das ist ja wahrscheinlich vor allem die Beziehung, die dort wirksam ist, weil nämlich der/die TherapeutIn sich mit in die Situation begibt und dort das auszuhalten bereit ist, was passiert. Wie wichtig ist therapeutische Beziehung in der Behandlung von ZwangspatientInnen?
N. Hoffmann: Sie ist von großer Bedeutung und das auch deswegen, weil die meisten ZwangspatientInnen, wenn sie schon seit einiger Zeit erkrankt sind, eindeutig im Umgang mit Helfern traumatisiert sind. Sie haben in der Regel viele Erfahrungen von Inkompetenz, von falschen Diagnosen, von Unverständnis, von Verdächtigungen, dass sie simulieren würden usw. Sie berichten dabei übereinstimmend über dieselben Beobachtungen. Therapeuten und Therapeutinnen schauen völlig ratlos drein, Patienten stellen fest: Ich habe gleich bemerkt, dass er mir die falschen Fragen gestellt hat. Wenn also ein Kranker merkt, dass er es mit jemandem zu tun hat, der Bescheid weiß und der nach kurzer Zeit sein System so gut versteht, dass er praktisch in der Lage ist, jede zwangsbedingte einschlägige Geste und jeden einschlägigen Gedanken voraus zu sagen, dann tritt eine große Erleichterung ein. Dies ist einer der ersten und ganz wichtigen Effekte in der Beziehung. Eine zweite ganz wichtige Erfahrung macht der Patient dann, wenn er merkt, dass sich der Therapeut mit ihm auf den Weg macht, um den Zwang sozusagen am Werk zu sehen, ihn kritisch zu beobachten und herauszufordern. Er geht mit ihm in Situationen - zuerst weniger mit der Absicht, große Verhaltensveränderungen beim Patienten zu bewirken, sondern damit sich beide den Zwang mit anderen Augen anschauen. Der Patient fängt an, das Denkverbot, dem er bisher unterlegen ist, aufzuheben und beginnt sich neue Fragen zu stellen: „Was ist da passiert in meinem Leben?”; „Warum muss ich so reagieren?”; „Warum reagieren andere anders?”; „Muss ich bis ans Ende meines Lebens diese Sache so machen?”; „Kann ich mir wenigstens schon vorstellen, es ein bisschen anders zu machen?” und ähnliches mehr. Und bei diesem großen Abenteuer, das in dem Moment für den Patienten anfängt, ist der Therapeut oft dabei, bis hin zu telefonischen Kontakten zu unkonventionellen Zeiten, etwa vor dem Schlafengehen, wenn es sich z. B. um Kontrollzwänge in der eigenen Wohnung handelt. In einem solchen Fall muss selbstverständlich die Hauptarbeit am Abend stattfinden, dann wenn die kritische Zeit für den Patienten angebrochen ist. Diese gemeinsame therapeutische Arbeit ist oft sehr unkonventionell, aber sie ist das Spannendste, das ich im Rahmen meiner psychotherapeutischen Tätigkeit je kennen gelernt habe.
PiD: Wie stark lassen Sie sich als Therapeut selbst auf Zwangssysteme von Patienten ein? Wenn ein Patient aus Kontaminationsängsten beispielsweise Ihnen nicht die Hand geben will, sich nicht auf den Stuhl setzen will, weil er befürchtet, andere Menschen mit irgendwelchen Eigenschaften sind dort schon drauf gesessen, wie stark lassen Sie sich von solchen Symptomen leiten und ordnen sich dem unter, d. h. liefern sich dem Zwang sozusagen aus, und was bedeutet dies intrapsychisch für das Befinden des Therapeuten?
N. Hoffmann: Ein Patient der sich so verhält, macht lediglich von seinem elementaren Recht Gebrauch, die Störung auch wirklich zu haben, die ich vor drei Minuten diagnostiziert habe. Und ich finde, das ist wirklich sein Recht. Wir lassen uns also natürlich total auf das ein, versuchen nicht mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, sondern versuchen, den Patienten im Laufe der Zeit immer mehr von seinem fremden Steuerungssystem, sprich dem Zwang zu entfremden und ihn wieder in einen normalen Rapport mit dem Leben zu bringen.
PiD: Wenn wir kurz das Augenmerk vom Patienten als Opfer seiner Störung hin auch zu der Täterseite verlagern: ZwangspatientInnen sind ja häufig in der Lage, ihre ganzen Familiensysteme oder ihre sozialen Systeme zu beherrschen, diese leiden zu lassen und dabei ein hohes Ausmaß an Macht auszuüben. Wie stark spielen solche Überlegungen für die Aufrechterhaltung der Störung eine Rolle und wie stark werden sie in der therapeutischen Beziehung reflektiert?
N. Hoffmann: Wenn man davon ausgeht, dass der Zwangskranke ein künstliches, oft sehr abstruses und für ihn und andere schmerzhaftes System der Selbstregulation, aber auch der Fremdregulation herausgefunden hat, dann können wir erst einmal davon ausgehen, dass er darauf angewiesen ist. Wir können nur erwarten, dass er Anteile davon oder das ganze System dann aufgibt, wenn er über andere Mittel verfügt, um sich selber und seine Beziehung zu anderen zu regulieren. Der Schwerpunkt der Therapie liegt also darauf, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln, die sowohl intrapsychisch als auch interpersonell gesehen dem Patienten erlauben, ein befriedigendes und erfolgreiches Leben zu führen, ohne auf seine zwanghaften Strategien angewiesen zu sein.
PiD: Aber stoßen wir nicht manchmal auf das Problem, dass wir an adäquaten Verhaltensweisen wenig zu bieten haben im Vergleich zu den Macht-, Durchsetzungs- und Aufmerksamkeitseffekten, die manche - vor allem bizarre - Zwangsstörung hat?
N. Hoffmann: Bei sehr vielen Zwangskranken muss man wirklich davon ausgehen, dass sie sich in Zukunft einer Art Banalitätskur unterziehen müssen, d. h. sie müssen auf vieles verzichten, was auf den ersten Augenblick grandios und sehr effizient im Sinne eines krankhaften Wertesystems erscheint. Sie müssen aufhören, daran zu glauben, dass für sie andere Regeln gelten als für die anderen Menschen, dass sie, wenn auch oft im Negativen, den Mittelpunkt der Welt darstellen. Wir müssen sie wieder dazu bringen, das zu tun, was schon Alfred Adler von seinen Patienten gefordert hat: ihre grandiosen Ideen aufzugeben und wieder, ohne Wenn und Aber, in die Reihe ihrer Mitmenschen zurückzukehren.
PiD: Herr Hoffmann was raten Sie vor allem jüngeren Therapeutinnen und Therapeuten, um zu vermeiden, nach einigen Behandlungsstunden selbst in negative Emotionen bezüglich des Zwangskranken zu kommen und dann selbst Zwang ausüben zu wollen. Ich habe häufig festgestellt, dass in einer Therapie, in der sich bislang wenig bewegt hat, TherapeutInnen nach einiger Zeit dazu tendieren, jemanden mal richtig am Schopf zu packen und „irgendwo reinzudrücken”, damit der oder die Kranke endlich mal kapiert, dass dieses oder jenes nicht so schlimm ist. Was raten Sie TherapeutInnen, um sich vor so einer Entwicklung zu schützen?
N. Hoffmann: Ich rate ihnen an allererster Stelle, sich für die Menschen zu interessieren mit denen sie es zu tun haben, und sich für die Phänomene zu interessieren, mit denen sie sich beschäftigen. Gerade die Phänomene des Zwanges sind oft von einer tragischen Skurrilität und wer sich nicht mehr dafür interessiert, einem Menschen zuzusehen, der mit unserer Hilfe in der Lage ist, sich langsam aus diesem Kerker zu befreien, der sollte sich selber vielleicht Fragen stellen und seine Position überdenken. Ich denke jenseits von allen echten oder aufgesetzt echten empathischen Regungen ist ein wirkliches Interesse für das, womit wir es zu tun haben, bei unserer Arbeit entscheidend. Gerade auch im Zeitalter der manualisierten Psychotherapie finde ich, dass ein größeres Interesse an Psychologie und an Menschen schlechthin wieder eine Richtung vorgeben würde, die man nur begrüßen kann.
PiD: Es passt ja auch gut zu Ihren Ansätzen, die Selbststeuerungskompetenzen bei ZwangspatientInnen wieder zu fördern und in den Mittelpunkt zu stellen. Das Menschenbild, das Sie entwickeln, beruht eher auf einer Stärkung der eigenverantwortlichen und dem Willen unterworfenen Anteile der PatientInnen und weniger auf ausgefeilten Expositions- und Konfrontationstechniken, die therapeutisch verordnet werden.
N. Hoffmann: Exposition und Konfrontation bilden nach wie vor den zentralen Teil, wir haben nur ein anderes Bild dessen, was Patienten bei Expositionen leisten und leisten sollen, um ihre Störung zu überwinden. Ich habe lange Zeit Patienten interviewt, die anderswo Expositionen absolviert haben, die nach dem Modell der Habituierung funktionieren sollten. Ich habe mich ausführlich mit ihnen unterhalten, wie sie die Situation innerlich angegangen sind, was sie gedacht und was sie gefühlt haben. Dabei ist eine große Vielfalt an Phänomenen interessantester Art zum Vorschein gekommen. Wenn man das alles Habituierung nennen möchte, meinetwegen, aber was mich interessiert ist, was sich hinter einer solchen Worthülse verbirgt.
PiD: Wir hatten vorhin kurz über die Rolle von positiven Emotionen in der Behandlung gesprochen. Würden Sie empfehlen, mit zwangskranken PatientInnen auch Genussübungen oder hedonistische Übungen durchzuführen, oder halten Sie es für sinnvoller, hauptsächlich auf eine symptomorientierte Behandlung abzuzielen.
N. Hoffmann: Nein, hedonistische Übungen sind von großer Bedeutung, sie sind sogar in unserem Ansatz sehr wichtig. Es geht aber auch hier weniger um isolierte Tätigkeiten, wie Blütenblätter betrachten, sondern es geht uns vor allem darum, dass die Menschen in ihren natürlichen Lebenssituationen diese Möglichkeiten ihres Daseins wieder neu entdecken und entfalten können. Es gibt also in den meisten Situationen des Lebens andere Sachen, mit denen man sich beschäftigen kann, als mit denen, die vom Zwang in den Mittelpunkt gestellt werden. Dieser Teil der Überwindung des Zwanges, der darin besteht, die eigenen Werte und Bedürfnisse auch in den bislang gemiedenen oder vom Zwang befallenen Situationen neu zu realisieren, scheint ganz zentral zu sein.
PiD: Raten Sie Patienten und Patientinnen zur Teilnahme an Selbsthilfegruppen über die deutsche Gesellschaft für Zwangserkrankte?
N. Hoffmann: Ja, sicherlich. Als eine wichtige Möglichkeit, um die eigene Entfremdung von den Menschen aufzuheben. Diese Gruppen dürfen sich aber nicht darauf beschränken, immer wieder über den Zwang zu klagen und gelegentlich eine Mutprobe durchzuführen. Dann bleibt alles innerhalb des Zwangssystems. Diese Patienten müssen sich irgendwann wirklich auf den Weg machen, um ganz neue Sachen zu entdecken, und dazu bedürfen sie in der Regel einer Hilfe, die über die hinausgeht, die sie in den Selbsthilfegruppen erfahren.
PiD: Wie sehen Sie die Rolle von Pharmakotherapie im Zusammenspiel mit Psychotherapie?
N. Hoffmann: Sie ist in vielen Fällen eine wertvolle, in einigen Fällen eine unabdingbare Ergänzung, vor allem dann, wenn die Zwangserkrankung mit einer Depression einhergeht. Pharmakotherapie allein scheint den Untersuchungen zufolge für den langfristigen Erfolg nicht ausreichend zu sein.
PiD: Herr Dr. Hoffmann, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.