Rehabilitation (Stuttg) 2003; 42(2): 65-66
DOI: 10.1055/s-2003-38813
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Leitlinien in der medizinischen Rehabilitation

Guidelines in Medical RehabilitationW.  H.  Jäckel1 , C.  Korsukéwitz2
  • 1Hochrhein-Institut für Rehabilitationsforschung, Bad Säckingen,
    und Abteilung Qualitätsmanagement und Sozialmedizin des Universitätsklinikums Freiburg
  • 2Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Berlin
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Publication Date:
17 April 2003 (online)

Leitlinien dienen dem Zweck, die Fülle des schnell wachsenden Wissens in der Medizin systematisch zu sichten, nach dem Grad der wissenschaftlichen Gewissheit (Evidenz) zu bewerten und zu praxisbezogenen Handlungsempfehlungen aufzubereiten. In dem vorliegenden Schwerpunktheft soll zunächst die Bedeutung von Leitlinien für das Rehabilitationssystem dargestellt und anschließend der derzeitige Stand der Leitlinienentwicklung dokumentiert werden.

Im Vergleich zur internationalen Entwicklung und zum akutmedizinischen Zweig des Gesundheitsversorgungssystems hat die Rehabilitation das Thema Leitlinien vergleichsweise spät aufgegriffen. Die Ursache für die Verzögerung kann u. a. darin gesehen werden, dass Untersuchungen zur Wirksamkeit der therapeutischen Maßnahmen - anders als in der Akutmedizin - nicht von der pharmazeutischen Industrie gefördert worden sind. Darüber hinaus stehen Wirksamkeitsnachweise für die rehabilitativen Interventionen vor grundsätzlichen methodischen Problemen, die nur schwer zu lösen sind. Dazu zählen juristische Probleme bei der Randomisierung („Reha versus Non-Reha”), die Unmöglichkeit einer „Verblindung” von Patienten und/oder Therapeuten sowie die starken konfundierenden Einflüsse subjektiver Faktoren auf Seiten der Patienten oder auch Therapeuten. Diese Probleme haben dazu geführt, dass Wirksamkeitsnachweise für die rehabilitativen Interventionen meist nur in Form von Eingruppen-prä-post-Designs vorliegen und Studien eines höheren Evidenzgrades selten geblieben sind. Durch den späteren Beginn der Leitlinienentwicklung ergibt sich für das Rehabilitationssystem jedoch auch die Chance, die inzwischen bekannten anfänglichen methodischen Probleme bei der Erarbeitung von Leitlinien in der Akutmedizin zu vermeiden. Hierzu können die Erfahrungen und Empfehlungen des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ), insbesondere die Berücksichtigung der Checkliste zur Bewertung der methodischen Qualität von Leitlinien, einen wichtigen Beitrag leisten. Der Beitritt der Rentenversicherung zum Clearingverfahren des ÄZQ unterstreicht den Willen, diesen Prozess zu unterstützen.

Zur Zeit bestehen vielfältige Aktivitäten zu den Themen Leitlinienentwicklung und Leitlinienbewertung in der Rehabilitation:

Von einzelnen Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung werden umfangreiche Programme zur Leitlinienentwicklung und -implementation in den Reha-Indikationen Kardiologie, Chronische Rückenschmerzen, Diabetes mellitus und Psychosomatik gefördert. Der aktuelle Stand dieser Programme wird in diesem Heft ausführlich dargestellt. Zusätzlich zu den vorgestellten Projekten fördert die Rentenversicherung auch die Leitlinienentwicklung bei der Rehabilitation nach Bandscheibenoperation und bei Schlaganfall.

Die Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften hat eine Kommission „Leitlinien” eingerichtet, die ein Positionspapier zu Leitlinien in der medizinischen Rehabilitation erarbeitet hat. Zu dieser Kommission gehören auch indikationsspezifische Arbeitsgruppen (Muskuloskelettale Krankheiten [Sprecher: B. Greitemann], Kardiologie [M. Karoff], Sucht [W. Müller-Fahrnow], Psychosomatik [H. Rüddel] sowie Stoffwechsel- und Verdauungskrankheiten [H. Raspe, E. Zillessen]). Aufgabe der Arbeitsgruppen ist die Bewertung vorhandener Leitlinien in der Akutmedizin bez. der Berücksichtigung rehabilitativer Gesichtspunkte und der Übertragbarkeit auf die Rehabilitation. Außerdem stehen sie als Ansprechpartner für Leitlinienentwicklungen in anderen Feldern der Gesundheitsversorgung, aus denen sich Bezüge zur Rehabilitation ergeben, zur Verfügung. Von Bedeutung ist insbesondere auch die Einbindung der medizinischen Fachgesellschaften, die sich ihrerseits diagnose- oder systembezogen mit der Entwicklung von Leitlinien beschäftigen.

Die zur Zeit laufenden Projekte zur Leitlinienentwicklung in der Rehabilitation fokussieren auf den therapeutischen Prozess während der Rehabilitationsmaßnahmen. Mittelfristig ist es darüber hinaus erforderlich, auch andere wichtige Aspekte des gesamten Rehabilitationsprozesses bei der Leitlinienentwicklung zu berücksichtigen. Hierzu zählen insbesondere die Indikationsstellung, die Zuweisungskriterien, die sozialmedizinische Beurteilung im Rehabilitations- und Begutachtungsprozess und die Rehabilitationsnachsorge. Vor dem Hintergrund der Disease-Management-Programme (DMP) erhält die Indikationsstellung zur Rehabilitation eine besondere aktuelle Relevanz, um eine umfassende und effektive Behandlung von Menschen mit chronischen Krankheiten zu gewährleisten. Eine mangelnde Berücksichtigung in den DMP kann zu einer rehabilitativen Unterversorgung führen und gravierende Konsequenzen für die rehabilitativen Strukturen in Deutschland haben. Noch viele Fragen ergeben sich zum Beitrag, den die Leitlinienentwicklung über die individuelle Prozessoptimierung hinaus auf grundlegende Systemfragen in der Gesundheitsversorgung in Deutschland haben kann. Die Komplexität dieser systembezogenen Fragen bildet sich z. B. in der Versorgungssituation bei psychischen/psychosomatischen Störungen ab, die eine ausgewogene Bewertung schwierig werden lässt.

Für eine evidenzbasierte rehabilitative Versorgung ist die Existenz von wissenschaftlich begründeten Leitlinien eine wichtige, aber nicht hinreichende Bedingung. Nur wenn es gelingt, die erarbeiteten Leitlinien auch tatsächlich in die Rehabilitationspraxis zu implementieren, ist der Aufwand für die Entwicklung der Leitlinien vertretbar. Im Vergleich zu den anderen Zweigen des Gesundheitsversorgungssystems bietet die Rehabilitation durch die Qualitätssicherungsprogramme der Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenkassen hervorragende Möglichkeiten zur Überprüfung der Implementation und der Einhaltung von Rehabilitationsleitlinien in der Praxis.

Das vorliegende Schwerpunktheft soll dazu beitragen, die Diskussion über die Leitlinienentwicklung und -implementation vor dem Hintergrund der Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Menschen zu intensivieren.

Prof. Dr. med. Wilfried H. Jäckel

Hochrhein-Institut für Rehabilitationsforschung e. V.

Bergseestraße 61

79713 Bad Säckingen

Email: whjaeckel@hri.de

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