Gesundheitswesen 2003; 65(3): 139-140
DOI: 10.1055/s-2003-38520
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Risiken und Ressourcen für Gesundheit

Health Risks and Available ResourcesJ. G. Gostomzyk1
  • 1Präsident der DGSMP, Gesundheitsamt, Augsburg
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Publication Date:
16 April 2003 (online)

Das Thema und das Tagungsprogramm der gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie (DGMS) zeigen die hohe versorgungsrelevante Aktualität sozialmedizinischer Fragestellungen und eine beachtliche wissenschaftliche Kompetenz der Referenten und ihrer Arbeitsgruppen, aus denen sie berichten. Jeder einzelne Themenbereich, ich nenne beispielhaft Gesundheitsförderung, Versorgungsforschung, öffentliche Gesundheit, soziale Ungleichheit in der gesundheitlichen Belastung, demographische Entwicklung, Pflege und Qualitätssicherung, beinhaltet die Frage nach Risiken und Ressourcen für Gesundheit.

In zwei Podiumsdiskussionen werden wir über den Stand der Sozialmedizin in der Versorgungspraxis beraten und ferner, aus aktuellem Anlass der Verabschiedung der neuen AOÄ, darüber zu sprechen haben, wie durch einen optimierten Wissenstransfer aus Forschung und Praxis die Attraktivität sozialmedizinischer Lehrangebote im Medizinstudium erhöht werden kann. Nach der neuen AOÄ können durch die fehlende Festlegung von Stundenanteilen der Fächer und die mögliche Anpassung der Fachkataloge und Querschnittsbereiche an die medizinisch-wissenschaftliche Entwicklung die medizinischen Fakultäten ihre Stundenpläne in Zukunft inhaltlich und strukturell viel stärker als bisher selbst ausgestalten. Die Beteiligung der Fächer am Curriculum kann dabei nach ihrer inhaltlichen Relevanz und Leistungsfähigkeit für die Lehre erfolgen. Zugleich können die einzelnen medizinischen Fakultäten thematische Schwerpunkte setzen und ein besonderes Lehrprofil ausprägen. Darin liegt für die so genannten „kleinen Fächer” das Risiko, übergangen zu werden. Aber die Situation eröffnet auch neue Chancen, vor allem im Rahmen eines problemorientierten, fächerübergreifenden und fallbezogenen Unterrichts einschließlich Prüfungen. Die Erarbeitung und Einführung eines fächerübergreifenden Curriculums, das vom ersten bis zum letzten Semester einen durchgehenden Strang psychosozialer, nicht zuletzt gesellschafts- und systembezogener Kompetenzen sicherstellt, erscheinen dabei ein lohnendes Oberziel.

Die Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin hat die Prävention in ihren Namen geschrieben. Derzeit gilt die Prävention als besonders wichtige Ressource für Gesundheit, sie wird verbunden mit der Hoffnung, durch sie Kostensenkungen im Gesundheitswesen zu erreichen. Thomas Mc. Keown hat in seinem Buch „Die Bedeutung der Medizin” darauf hingewiesen, dass seit alters her die Mythen von Hygieia und Äskulap die Oszillation zwischen zwei Standpunkten in der Medizin symbolisieren. Gesundheit ist für die Verehrer der Hygieia die natürliche Ordnung der Dinge, sie ist durch präventives Verhalten zu sichern. Die Anhänger des Äskulap sehen die Hauptaufgabe der Ärzte darin, Kranke zu behandeln. Seit Beginn der GKV stand die Kuration im Vordergrund. Derzeit wird Prävention als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe bezeichnet, durch die ein Paradigmenwechsel von der Kuration zur Prävention in der medizinischen Versorgung und auch ein Wandel in der Morbidität herbeigeführt werden soll.

Die Stadt Halle feiert in diesem Jahr 500 Jahre Universitätsgeschichte. Wer sich auf die Historie einlässt, läuft Gefahr, bereits Gesagtes zu wiederholen. Dennoch möchte ich auf einen lokalen Beitrag zur Prävention eingehen. Ein herausragender Diätetiker und Physiologe war der Hallenser Arzt Friedrich Hoffmann, er lebte von 1660-1742. Aus seinem therapeutischen Angebot haben die Hoffmanns-Tropfen bis heute überlebt, eine anregende Mischung aus Äthylalkohol und Äther, auf Zucker getropft bei Schwächezuständen zu verabreichen.

Obwohl die Medizingeschichte zeigt, dass Präventionskonzepte wesentlich länger Gültigkeit haben als therapeutische, ist das von Hoffmann entwickelte Präventionskonzept weniger bekannt, obwohl es durchaus bis heute Gültiges beinhaltet. Es umfasst sieben Lebensregeln zur heilsamen Lebensart. Die ersten sechs Regeln beziehen sich auf Maßhalten, auf Ruhe, Belastung und Gemütshaltung - also eine Anleitung zur Stressbewältigung - und auf Ernährung, wir reden neuerdings von Ökotrophologie und Verbraucherschutz. Als siebte Präventionsregel freilich fügte Hoffmann hinzu: „Wer seine Gesundheit liebt, fliehe die Medicos und alle Arzneien.”

Danach liegt der Schlüssel zum Erhalt der Gesundheit weder bei den Ärzten noch bei den Apothekern. Hoffmann setzt offenbar auf Kompetenz und Eigenverantwortung jedes Einzelnen für seine Gesundheit. Das entspricht modernen Präventionszielen, danach ist die gesundheitsbezogene Risikovermeidung Sache des Einzelnen und der gesellschaftlichen Übereinkunft, demgemäß setzt Prävention ein System von Werten, ein positiv-emotionales Verhältnis zur Gesundheit und einen entsprechenden Lebensstil voraus.

Hoffmann differenziert sehr scharf zwischen den Zuständigkeiten für Gesundheit und für Krankheit. Zum Unterschied dazu sieht Dieter Lenzen vom Forschungszentrum für historische Anthropologie der FU Berlin in unserer Zeit ein Risiko für die Gesundheit in einer zunehmenden Entdifferenzierung von Gesundheit und Krankheit. Sie sei der Schlüssel dafür, dass Medizin einen überwiegenden Teil der Bevölkerung zu Kranken erklärt. Beispielhaft für diese Medikalisierung seien die Cholesterin-Debatte und die vorrangig medikamentöse Therapie von Befindensstörungen. Der Medizinhistoriker Labisch sieht in der ständig zunehmenden Medikalisierung einen Teilaspekt der „Rationalisierung” des Lebens in der Moderne.

Diese Entdifferenzierung, auch in der Zuständigkeit professioneller Akteure, stellt die nachweisbaren Erfolge der bisherigen Prävention in Betrieben, in Kommunen sowie in Selbsthilfeorganisationen nicht infrage, im Gegenteil. Dennoch ist unübersehbar das bisherige Ergebnis unserer Präventionsbemühungen in vielen Bereichen eher bescheiden. Die Risiken durch Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel und Rauschmittel haben unter Kindern und Jugendlichen ein Besorgnis erregendes Ausmaß erreicht. Für Jugendliche sind, ebenso wie für Erwachsene, Armut und geringe Bildung Belastungsfaktoren für die Gesundheit. Das kann sozialmedizinische Forschung nicht gleichgültig lassen, zumal laut Armutsbericht in unserem Land Kinder selbst das höchste Risiko für eine Armutsentwicklung sind. Wir müssen neue Wege suchen, da die größte Effektivität im Sinne einer nachhaltigen Prävention bei den Kindern und Jugendlichen zu erzielen ist, die wir gegenwärtig zu wenig erreichen.

In der DGSMP hat sich eine Arbeitsgruppe Demographie gebildet. Die demographische Entwicklung gilt heute und vor allem aber für die Zukunft als hohes Risiko für die Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems. Es ist leicht prognostizierbar, dass wissenschaftliche Demographie ein ebenso unverzichtbares und effektives Instrument für Prognose und Evaluation unseres Gesundheitssystems und für die gesundheitliche Entwicklung unserer Bevölkerung sein wird, wie es die Epidemiologie bereits ist. Dabei wird die Beziehung zwischen demographischer Entwicklung und Solidarität in der Gesellschaft mit ihren Auswirkungen auf die Sozialversicherung, speziell auf die Krankenversicherung, die zentrale Frage sein. In der Rentenversicherung hat die Entwicklung mit der Einführung der kapitalgedeckten Altersversorgung, der so genannten Rister-Rente, bereits begonnen, für die Krankenversicherung ist sie unvermeidbar.

Die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) hat in diesem Jahr auf die demographische Herausforderung reagiert, sie hat eine von Versicherungsunternehmen finanzierte Stiftungsprofessur für Versicherungsmedizin mit eigener Abteilung im Zentrum öffentliche Gesundheitspflege eingerichtet. Das ist ein wichtiger Beitrag, den Wandel der Solidargemeinschaft wissenschaftlich zu begleiten. Der Kranke soll sich auch in Zukunft auf die Solidarität der Gesunden verlassen können. Aber auch die Gegenfrage ist zu stellen, können sich die Gesunden auf ein im Sinne der Risikominimierung solidarisches Verhalten der Kranken verlassen? Wir müssen fragen, welchen Beitrag die Sozialmedizin zum gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Meinungsbildungsprozess darüber, wie das Solidaritätsprinzip neu zu bestimmen sei, leisten kann. Mir erscheint es dringend notwendig, in Deutschland mindestens zwei sozialmedizinische Lehrstühle mit dem Schwerpunkt sozialmedizinische Begutachtung in der Sozialversicherung einzurichten. Stiftungskapital garantiert dabei größere Praxisnähe, die ja für die Medizinerausbildung gefordert wird.

Die aktuelle politische Diskussion über Krieg als Mittel der Politik gebietet es, Krieg als eines der größten Risiken für Morbidität und Mortalität zu nennen. Im Weltgesundheitsreport 2001 der WHO wird die direkte kriegsbedingte Mortalität auf 0,5 % der Gesamtmortalität beziffert, die indirekte konfliktbedingte Mortalität wird ca. 10fach höher geschätzt. Dazu kommen Belastungen durch Zerstörung öffentlicher Einrichtungen der Gesundheitspflege, durch Vertreibung der Zivilbevölkerung, durch Hunger und Infektionskrankheiten, durch Zusammenbruch der Gesundheits- und Sozialsysteme sowie durch die Zerstörung ökonomischer Ressourcen und der Umwelt.

Sozialmedizinische Verantwortung endet nicht an Ländergrenzen, aber in ihrer gesellschaftsbezogenen Sichtweise der Gesundheitsbildung liegt eine große Ressource. Ilona Kickbusch hat auf unserer Jahrestagung in Berlin vor zwei Jahren in ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung der Salomon-Neumann-Medaille es als Chance herausgestellt, dass der Gesundheitsbereich als einer der innovativsten globalen Politikbereiche gilt, auch in Hinblick auf Formen und Möglichkeiten einer neuen europäischen, ja sogar globalen Sozialpolitik. Gesundheit für alle kann und muss ein global konsensfähiges, Richtung und Hoffnung gebendes Politikziel sein und bleiben.

Es bleibt mir die angenehme Pflicht, Herrn Prof. Slesina und allen seinen Mitarbeitern, stellvertretend nenne ich Frau Patzelt und Herrn Dr. Weber, im Namen der DGSMP für die Arbeit und Sorgfalt, mit der sie diese Tagung vorbereitet haben, sowie Frau Küstenbrück und Frau Günther-Grahl für die Sekretariatsarbeit herzlich zu danken.

Unserer Tagung wünsche ich einen guten und erfolgreichen Verlauf.

Prof. Dr. med. J. G. Gostomzyk

Präsident der DGSMP, Gesundheitsamt

Hoher Weg 8

86152 Augsburg

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