Gesundheitswesen 2003; 65: 1-2
DOI: 10.1055/s-2003-38121
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Fortbildung und Verantwortung

Advanced Training and ResponsibilityJ. G. Gostomzyk
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Publication Date:
21 March 2003 (online)

Je umfassender die Medien die Öffentlichkeit über Phänomene wie BSE, biologische Strahlenwirkungen, Nahrungsmittelskandale, Bioterrorismus usw. informieren, umso mehr sucht der verunsicherte Bürger sachverständige Auskünfte zu seinem persönlichen Risiko. Schneller als in anderen Bereichen der medizinischen Versorgung üblich werden vom öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) auf neu erkannte bzw. vermutete gesundheitliche Risiken Antworten erwartet. Der ÖGD soll informieren, nach Möglichkeit präventiv agieren oder zumindest schadensminimierend reagieren. Mit dem Schutzbedürfnis gegenüber neuen mehr oder weniger realen Bedrohungsszenarien bei ohnehin dramatischem Wandel vieler Lebensbereiche steigen die Erwartungen und Ansprüche der Bürger an Gesundheitspolitiker und öffentliche Fachverwaltungen. Der ÖGD, der sich in den letzten Jahren zunehmend den gesundheitlichen und sozialmedizinischen Belangen kommunaler Daseinsvorsorge, der bürgernahen Gesundheitsförderung und der Prävention zuwendete, muss nun zudem den erweiterten Auftrag staatlich organisierten Gesundheits- und Verbraucherschutzes schultern.

Angesichts der genannten Entwicklungen und wohl auch als Reaktion auf Erwartungen der Bürger wurde Anfang 2001 das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz (BStGEV) mit den Fachabteilungen „Gesundheit und Ernährung”, „Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen” sowie „Arbeitsschutz, Sicherheitstechnik und technische Überwachung” einschließlich der Zuständigkeit für Gesundheits-, Veterinär- und Gewerbeaufsichtsämter gegründet. Es folgte 2002 die Neuorganisation des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Zum Jahresbeginn 2002 wurde der Verbund „Akademien für Gesundheit, Ernährung und Verbraucherschutz (AGEV)” gebildet mit der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen (ÖGW) und der Akademie für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin (ASUMED) sowie Fortbildungseinrichtungen für den staatlichen Veterinärdienst und die Ernährungsberatung.

Die Akademie für ÖGW im BStMGEV war bereits bisher für Studierende aus dem Dienstleistungsunternehmen ÖGD ein Ort der Synthese von praktischen Erfahrungen mit einem breit gefächerten Theorieangebot und durch diese Zusammenschau wohl auch Vermittler eines normativen Wegweisers für die spätere Tätigkeit. Sie wurde durch die Organisationsentwicklung in einen neuen Struktur- und Aufgabenzusammenhang gestellt. Ihr Aufgabenschwerpunkt war bisher die Sicherung der Eingangsqualifikation des Fachpersonals für den ÖGD. Der nunmehr das gesamte Arbeitsleben begleitende Qualifikationsbedarf erfordert eine systematische Programmerweiterung um entsprechende Fortbildungsangebote. Die Integration der Akademie ÖGW in die AGEV und damit auch in das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit kann als zusätzliche Entwicklungschance gesehen werden.

Die Erwartungen an die Akademie ÖGW gehen allerdings über die Aufgabenwahrnehmungen hinaus, die sich für das Fachpersonal aus den flexibleren Aufgabenstellungen durch die Eingliederung der Gesundheitsämter in die Landratsämter ergeben. In einem Grußwort zum Programm 2003 der AGEV wünscht Minister Sinner Führungskräfte und Mitarbeiter, „die fachlich fit und innovativ sind”. Das Thema „Führung” ist dabei ein Schwerpunkt der Fortbildung: „Die Zukunftsaufgabe in jeder Organisation ist das Managen von Wandlungsprozessen und das bedeutet eine Entwicklung des Unternehmens hin zur lernenden Organisation, die in hohem Maße mit komplexen Situationen umzugehen gelernt hat.” Führungskräfte werden in Zukunft vermehrt Moderations- und Begleitfunktionen haben. Spezifisch für den ÖGD ist der Umgang mit gesundheitsbezogenen Bürgerinteressen, das bedeutet u. a. auch unbestimmte, aber die Gesellschaft gestaltende Begriffe wie Allgemeinwohl, Eigenverantwortung u. ä. auf konkrete Situationen anzuwenden. Neben der Verwaltungs-, der Sozial- und der Selbst-Kompetenz ist für die Fortbildung der Fachkräfte - das gilt ganz besonders in Hinblick auf die äußerst dynamischen Entwicklungen in der Medizin und der Biologie - die Aktualität der Fachkompetenz sicherzustellen. Um aktuelle Fachkompetenz vermitteln zu können, ist ein permanenter Wissenstransfer zwischen wissenschaftlichen, unabhängig von ökonomischen Interessenbindungen forschenden Einrichtungen und der Akademie unverzichtbar. Derartige Beziehungen sind mit großer Sorgfalt sicherzustellen.

In den letzten 10 Jahren hat sich eine Kooperation zwischen der Akademie für ÖGW und dem Postgraduierten Studiengang „Öffentliche Gesundheit und Epidemiologie” an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München bewährt. Diese gilt es weiterzuentwickeln, vor allem, um die Methodenkompetenz der Mitarbeiter des ÖGD in den Bereichen Epidemiologie, Gesundheitsberichterstattung und Sozialwissenschaften zu stärken. Analoges gilt für die Beziehungen zum „Bayerischen Forschungs- und Aktionsverbund Public Health”. Der entstehende Mehrwert ist nicht einseitig verteilt. Auch die Absolventen des Postgraduierten-Studiengangs und der Forschungsverbund können von der Kooperation mit Vertretern aus Praxis und Verwaltung öffentlicher Gesundheit profitieren. Grundsätzlich liegt in der Förderung von Lehre und Forschung auf dem Gebiet öffentlicher Gesundheit in Bayern für die Akteure in wissenschaftlichen Instituten und im öffentlichen Gesundheitswesen die Chance, ihre jeweiligen Aufgabenbereiche effektiver zu gestalten.

Für die öffentliche Gesundheitssicherung sind auch die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse aus Medizin und Biologie unverzichtbar, d. h., dass der ÖGD sich kritisch-konstruktiv mit der aktuellen biologisch-medizinischen Diskussion auseinandersetzen muss. Ohne Kenntnis aktueller Forschungsergebnisse können beispielsweise bevölkerungsrelevante Fragen moderner Genetik, die tief in unsere biologischen und ethischen Lebensgrundlagen eingreifen, nicht kompetent moderiert werden. Die ständige Konfrontation mit neuen Erkenntnissen und Herausforderungen gehört zum Wesen unserer Informationsgesellschaft und macht die Innovationsbereitschaft mit begleitender Qualitätssicherung der eigenen Arbeit zur Existenzfrage, auch für den ÖGD.

Die Bildung der AGEV wirft auch Fragen auf nach ihrer Rolle im Rahmen der Weiterbildungsordnung für Ärzte, die Gegenstand der ärztlichen Selbstverwaltung ist. Die an einer Akademie für ÖGW abzulegende 2. Staatsprüfung gilt auch nach dem neuen Entwurf einer Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer (WBO) als eine Voraussetzung für den Erwerb der Facharztbezeichnung „Arzt für öffentliches Gesundheitswesen”. Die Feinabstimmung der Weiterbildungsinhalte erfolgt zwischen der jeweiligen Landesärztekammer, die in ihrem Bereich für die WBO zuständig ist, und Fachvertretern. Das betrifft die Akademie ÖGW ebenso wie die einschlägigen wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Berufsverbände. Die bisherige Zusatzbezeichnung „Umweltmedizin” soll gemäß WBO-Entwurf in Zukunft entfallen. Vorgesehen ist der Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin sowie eine curriculäre Fortbildung. Hier sind Überlegungen erforderlich, wie der ÖGD seine Umweltkompetenz erhält, weiterentwickelt und seine Kompetenz gegenüber der Bevölkerung erkennbar macht, auch in Abstimmung mit der bisher für den Theorieteil der Zusatzbezeichnung zuständigen ASUMED.

Weiterhin ist die Frage zu stellen, ob und wie die Akademie einen Beitrag dazu leisten kann, dass der in der neuen Approbationsordnung für Ärzte vorgesehene Querschnittsbereich „Öffentliche Gesundheitspflege” (§ 27 ÄappO) genutzt werden kann, dass bereits Medizinstudenten Inhalte vermittelt werden, die sie mit dem Beitrag des ÖGD zur Gesundheit der Bevölkerung vertraut machen. Die analoge Frage ist an die ASUMED zu richten bezüglich der sozialmedizinischen Querschnittsbereiche Gesundheitsförderung, Prävention, Rehabilitation, Gesundheitssystem, Gesundheitsökonomie und Epidemiologie.

Ein wichtiges Element der Personalqualifizierung sind die regelmäßig stattfindenden Fortbildungskongresse der Akademie, deren Bedeutung durch hohe Teilnehmerzahlen unterstrichen wird. Die Akademie dokumentiert mit dem vorliegenden Band eine Auswahl von Beiträgen ihres Fortbildungskongresses 2001 und gibt damit einen Einblick in aktuelle Aufgaben und innovative Arbeitsbereiche des ÖGD, auch damit diese Eingang in die fachöffentliche und die gesundheitspolitische Diskussion finden. Auch der Gedankenaustausch mit Einrichtungen des ÖGW der Bundes- und Länderebene sind zu pflegen. Der ÖGD muss seine spezifischen fachlichen Leistungen und insbesondere seine populationsbezogenen Interventionsmöglichkeiten offensiv vertreten, da die Auseinandersetzungen der Gesundheits- und Sozialpolitik um sozial konsensfähige und finanzierbare Gesundheitsziele auch den Bereich öffentliche Gesundheitspflege betreffen. Eine systematische Entwicklung der Versorgungsforschung im Bereich öffentliche Gesundheit, auch als Gegenstand der Fortbildung, kann dazu beitragen, die gesundheitsrelevante Potenz dieses Sektors noch stärker als bisher zu nutzen.

Die ausgewählten Beiträge befassen sich mit den Themen Infektionsschutzgesetz, BSE und Creutzfeld-Jakob-Erkrankung, Essstörungen, Ernährungsökologie, Modellprojekt Neugeborenen-Screening in Bayern, Rechtssicherheit beim Impfen, Evaluation der Dienstfähigkeit (Laufbahn und Morbidität), Sexualität und Partnerschaft bei geistiger Behinderung sowie der Querschnittsaufgabe: Qualitätsmanagement in und durch den ÖGD.

Bei der Auswahl einer begrenzten Zahl von Beiträgen aus einem umfangreichen Kongressprogramm ist eine Wertung aus der Perspektive des Augenblicks unvermeidbar, die sich im Laufe der Zeit durchaus verschieben kann. Es liegt in der Natur der Sache und entspricht der Theorie des kritischen Rationalismus (Karl R. Popper), dass wissenschaftliche Erkenntnisse und vielmehr noch Berichte über prozesshafte komplexe Vorgänge keine abschließenden Wertungen zulassen. Aber Berichte über den Sachstand fördern die Prozessentwicklung und die Orientierung für eine eigene Standortbestimmung. Sie sind dienliche Vorgaben für problemorientiertes Lernen, auch in der geforderten Entwicklung des Unternehmens ÖGD zu einer „lernenden Organisation”.

Prof. Dr. J. G. Gostomzyk

Hoher Weg 8

86152 Augsburg

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