Handchir Mikrochir Plast Chir 2002; 34(6): 395-396
DOI: 10.1055/s-2002-37477
Kommentar

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gibt es Nervenkompressionssyndrome durch Lipome oder andere extra- oder intraneurale Raumforderungen außerhalb physiologischer Engpässe?

Bemerkungen zur Arbeit von P. Gruber und H. Towfigh: Lipome als seltene Ursachen für Nervenkompressionssyndrome an der Hand und am Unterarm. Bericht über drei Patienten. Handchir Mikrochir Plast Chir 2002; 34: 17 - 21 und zur Arbeit von J. S. Knabl, L. R. Walzer, A. Hartel, M. Frey: Komplette Parese des Nervus ulnaris durch ein traumatisches Aneurysma - Wiederherstellung der Nervenfunktion durch rechtzeitige Neurolyse. Handchir Mikrochir Plast Chir 2002; 34: 133 - 136On the Existence of Nerve Compression Syndromes by Lipomas or Other Extra- or Intraneural Tumors Outside of Physiological BottlenecksRemarks to the Article of P. Gruber, H. Towfigh: Lipoma as a Rare Cause of Nerve Compression Syndrome in the Hand and Forearm, and to the Article of J. S. Knabl, L. R. Walzer, A. Hartel, M. Frey: Total Ulnar Nerve Paralysis due to Acute Traumatic Aneurysm at the ForearmH. Assmus 1
  • 1Neurochirurgische Gemeinschaftspraxis, Dossenheim, Heidelberg
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Publication History

Eingang des Manuskriptes: 23. Juli 2002

Angenommen: 24. Juli 2002

Publication Date:
25 February 2003 (online)

Wenn der Begriff „Nervenkompressionssyndrom“ verwendet wird, sollte dies begründet und für den Leser nachvollziehbar sein. Hierbei sind zwei Voraussetzungen zu erfüllen: 1. Es muss die Affektion/Irritation/Läsion eines bestimmten Nervs nachgewiesen werden und 2. der ätiopathogenetische Zusammenhang hinreichend gesichert sein.

Zwei Beispiele mögen dies erläutern: 1. Als Ursache des therapieresistenten Tennisellenbogens wird eine Kompression des N. radialis bzw. des N. interosseus post. angenommen, obwohl eine solche bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte (vgl. Diskussionsbeitrag Handchir Mikrochir Plast Chir 2000; 32: 353 - 354). 2. In einer Kasuistik wird ein Aneurysma der Arteria ulnaris innerhalb der Loge de Guyon als Ursache eines Karpaltunnelsyndroms beschrieben (Handchir Mikrochir Plast Chir 1994; 26: 268 - 269). Wahrscheinlicher ist jedoch, dass zwei verschiedene Krankheitsbilder gleichzeitig vorgelegen haben, die in keiner kausalen Beziehung zueinander standen („zufälliges Zusammentreffen“). Weitere Beispiele für die angeschnittene Problematik bieten zwei kürzlich in der Handchir Mikrochir Plast Chir publizierte Arbeiten. Bevor ich auf diese näher eingehe, sollen zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zur Pathogenese eines Nervenkompressionssyndroms erfolgen.

Entwickelt sich ein Lipom (oder ein Ganglion, ein Aneurysma oder eine andere extra- oder intraneurale Raumforderung) in der Nähe oder unmittelbar an oder in einem Nerven, führt dies in der Regel nicht zu einer Kompressionsschädigung. Der Nerv kann zwar von diesem raumfordernden Prozess verdrängt werden und einen bogigen Verlauf um den Tumor nehmen oder selbst tumorartig verdickt sein, ohne dass es zwangsläufig zu einer Funktionsstörung des Nervs kommen muss. So können Riesenzelltumoren der Finger eine erhebliche Größe erreichen, ohne den Fingernerv, der gespannt über dem Tumor verläuft, zu schädigen. Auch große Nerventumoren, z. B. Schwannome oder Neurofibrome, führen nur selten zu einer Funktionsstörung des Nervs. Nur wenn der Nerv fixiert ist und nicht ausweichen kann, insbesondere wenn er in einem fibroossären Kanal oder einer Faszienloge verläuft, kann es zu einer Druckschädigung mit entsprechender klinischer Symptomatik kommen (Assmus, im Druck[1]). Lipome oder Ganglien als Ursache von Kompressionssyndromen wurden vorwiegend im Rahmen physiologischer Engpässe und unter straffen Faszien oder Bändern beschrieben:

Im Canalis spiralis können Lipome zu einer Kompression des N. radialis Anlass geben (Phalen und Mitarb. 19714). Im Supinatortunnel beziehungsweise unterhalb der Frohseschen Arkade führen häufig Lipome zu einer Kompression des N. interosseus posterior (Kalb und Mitarb. 20002, Lanz und Felderhoff 20003, Assmus im Druck1). Durch eine Raumforderung in der Loge de Guyon kommt es zu einer Kompression des distalen N. ulnaris beziehungsweise des Ramus profundus N. ulnaris. Hier sind Ganglien die häufigste Ursache, aber auch Aneurysmen können vorkommen (Zahrawi 19846, Tackmann und Mitarb. 19895, Kalb und Mitarb. 20002). Im Tarsaltunnel findet man sowohl Ganglien als auch Lipome, die zu einer Kompression der Nn. plantaris medialis oder/und lateralis führen (Tackmann und Mitarb. 19895, Assmus im Druck1).

Auch die ausgedehnte Lipomatose des N. medianus, seltener des N. ulnaris, eine hamartomartige Missbildung, kann zu einer Nervenfaserläsion führen. Diese ist ebenfalls auf den physiologischen Engpass, nämlich den Karpaltunnel beschränkt.

Fall 1 der Arbeit von Gruber und Towfigh ist das typische Kompressionssyndrom des N. interosseus posterior (Ramus profundus nervi radialis) im Bereich des Supinatortunnels beziehungsweise der Frohseschen Arkade. Die von den Autoren verwendete Bezeichnung „N. radialis“ ist jedoch insofern nicht ganz exakt, als ausschließlich der Ramus profundus betroffen war. Der Patient hatte keine sensiblen Störungen! Bei Fall 2 derselben Arbeit könnte es sich um ein Pronator-Syndrom handeln. Hierzu passt die Lokalisation des Lipoms und der beschriebene Provokationstest (Schmerzprovokation bei Pronation des gestreckten Arms). Nicht dazu gehört allerdings die deutlich verzögerte distale motorische Latenz des N. medianus, die für ein begleitendes Karpaltunnelsyndrom spräche und die sich postoperativ normalisierte, ohne dass der Karpaltunnel geöffnet wurde. Dies bedürfte einer näheren Erläuterung. Bei Fall 3 ist schließlich zu fragen, ob überhaupt eine belangvolle neurogene Kompression vorlag, wenn ja, wie diese entstanden sein könnte. Das sehr ausgedehnte Lipom lag außerhalb des Karpaltunnels und der Loge de Guyon und hatte zu Parästhesien der ulnaren Finger geführt, ohne dass manifeste sensible Störungen vorlagen. Denkbar wäre eine Kompression der Fingernerven zwischen Lipom und der Palmaraponeurose, die jedoch durch die elektroneurographischen Messwerte der Nn. medianus und ulnaris, die „im oberen Grenzwert“ lagen, nicht hinreichend gesichert erscheint.

Die eingangs aufgestellte Hypothese, dass u. a. ein Aneurysma an und für sich keine Nervenkompression außerhalb eines physiologischen Engpasses verursachen könne, ist auch durch die Arbeit von Knabl und Mitarb. über eine komplette Läsion des N. ulnaris nicht widerlegt. Die Autoren erbringen letztlich nicht den Beweis, dass die Läsion des N. ulnaris kausal mit dem Aneurysma in Zusammenhang steht. Da eine enge zeitliche Beziehung zwischen Trauma und Entstehung der Nervläsion vorliegt, würde man zunächst einmal davon ausgehen, dass die Stichverletzung, die das Aneurysma bzw. die Gefäßverletzung verursacht hat, auch zu einer Neurapraxieschädigung des N. ulnaris geführt hat. Ohne einen zuverlässigen Erstbefund - einschließlich neurologischer und elektrophysiologischer Untersuchung - ist die Folgerung der Autoren ausschließlich aufgrund der Angaben des Patienten zu spekulativ. Auch der in der Arbeit zitierte Fall der Arbeit von Suchenwirt und Gruß ist kaum als Referenzfall geeignet, da bei der Aneurysmaresektion die Nn. medianus und ulnaris durchtrennt (!) wurden. Demgegenüber sind 15 der zitierten 21 Fälle im Bereich eines physiologischen Engpasses (Handgelenk bzw. Loge de Guyon) lokalisiert, was wiederum unsere Hypothese bestätigen würde.

Aus Gründen der diagnostischen Klarheit und einer gut begründeten Indikationsstellung zur operativen Behandlung sollten

eine Nervbeteiligung eindeutig sein und möglichst durch eine elektroneurographische Untersuchung abgesichert und ein behaupteter kausaler Zusammenhang hinreichend begründet werden.

Für das therapeutische (operative) Vorgehen würden sich folgende Konsequenzen ergeben:

Bei ausgedehnten Weichteiltumoren und anderen Raumforderungen ist besonders auf eine Kompression von Nerven innerhalb vorgegebener Engpässe zu achten. Das Gleiche gilt auch für diffuse Volumenvermehrungen, z. B. im Rahmen eines Kompartment-Syndroms, bei dem im akuten Schwellungsstadium die physiologischen Engstellen der Nerven besonders sorgfältig revidiert werden müssen (Lanz und Felderhoff 20003). Bei Nerventumoren außerhalb physiologischer Engpässe ist die operative Indikation streng zu überprüfen, um überflüssige Eingriffe oder sogar für den Patienten schädliche Folgen zu vermeiden, z. B. die Resektion eines Neurofibroms, die mit einer postoperativen Parese eines funktionell wichtigen Nervs einherginge. Bei Nerventumoren innerhalb physiologischer Engpässe genügt in aller Regel die Beseitigung des Engpasses. Darüber hinausgehende Manipulationen sind riskant. Dies gilt auch für die seltene Lipomatose des N. medianus. Die Resektion eines Aneurysmas mag aus gefäßchirurgischer Sicht durchaus indiziert sein, nicht aber zwangsläufig auch aus neurologischer Sicht, z. B. wenn ein vermuteter kausaler Zusammenhang mit einer Nervenläsion nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen werden kann. In zweifelhaften Fällen ist jedoch (bei vertretbarem Risiko) die frühzeitige operative Revision gerechtfertigt.

Dem Leser mögen diese Kriterien für die tägliche Arbeit vielleicht zu anspruchsvoll erscheinen. Sie sind trotz aller Anstrengungen nicht immer leicht zu realisieren. Viele operative Eingriffe haben ihre Berechtigung, auch wenn sie nur explorativen Charakter haben. Für Fallmitteilungen darf die Messlatte aber vielleicht etwas höher angelegt werden.

Literatur

  • 1 Assmus H. Nervenkompressionssyndrome. Diagnostik und Chirurgie. Heidelberg, New York; Springer 2003
  • 2 Kalb K, Gruber P, Landsleitner B. Die nicht traumatisch bedingte Parese des Ramus profundis nervi radialis. Aspekte eines seltenen Krankheitsbildes.  Handchir Mikrochir Plast Chir. 2000;  32 26-32
  • 3 Lanz U, Felderhoff J. Ischämische Kontrakturen an Unterarm und Hand.  Handchir Mikrochir Plast Chir. 2000;  32 6-25
  • 4 Phalen G S, Kendrick J I, Rodriguez J M. Lipomas of the upper extremity. A series of fifteen tumors in the hand and wrist and six tumors causing nerve compression.  Am J Surg. 1971;  121 298-306
  • 5 Tackmann W, Richter H P, Stöhr M. Kompressionssyndrome peripherer Nerven. Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokio; Springer 1989
  • 6 Zahrawi F. Acute compression ulnar neuropathy at Guyon's canal resulting from lipoma.  J Hand Surg [Am]. 1984;  9 238-240

Dr. med. Hans Assmus

Neurochirurgische Gemeinschaftspraxis

Ringstraße 3

69221 Dossenheim

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