Gesundheitswesen 2002; 64(11): 614-622
DOI: 10.1055/s-2002-35539
Aktuelles Forum

© Karl Demeter Verlag im Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Health is a Crossroad”

Natur und Gesellschaft, Individuum und Gemeinschaft in der öffentlichen Gesundheitssicherung [1] „Health is a Crossroad”Nature and Society, Individual and Community, in Safeguarding Public HealthN. Paul1 , A. Labisch1
  • 1Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Further Information

Publication History

Publication Date:
20 November 2002 (online)

Zusammenfassung

Wer in Deutschland im Bereich von Public Health über „molekulare Medizin” spricht, macht sich verdächtig. Tatsächlich kommen Public Health, öffentliche Gesundheitssicherung, die Gesundheitswissenschaften insgesamt an Medizin und Biologie nicht vorbei. Dieser Grundgedanke wird zunächst historisch-systematisch und dann philosophisch-anthropologisch verfolgt. In einer näheren Sicht wird der Zusammenhang von molekularer Medizin und Public Health diskutiert. Demnach wird Gesundheit zukünftig sowohl auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene wesentlich an das Wissen um genetisch bedingte Dispositionen gebunden sein. Es ist abzusehen, dass diese molekular-genetische Lebenswelt für die Menschen demnächst genauso „wahr” werden wird, wie die hygienisch-bakteriologische Lebenswelt für uns „wahr” geworden ist. Die Medikalisierung aller menschlicher Lebenswelten wird in die „Molekularisierung” fortgeführt werden. Es gilt, die konkreten Auswirkungen dieser auch in der breiten Öffentlichkeit diskutierten Transformation von ihren Grundlagen her zu verstehen. Nur so können Chancen und Risiken der molekularen Medizin rational eingeschätzt werden. Grundlegend für eine solche Auseinandersetzung in der öffentlichen Gesundheitssicherung ist, dass sich die Public-Health-Bewegung kritisch-konstruktiv mit der aktuellen Entwicklung der molekularen Medizin auseinander setzt. Für die öffentliche Gesundheitssicherung und die Gesundheitswissenschaften ist der Aspekt der „Natur” und damit die Medizin und die Biologie öffentlicher Gesundheit ein essenzieller Bestandteil. Nur so ist es möglich, das Aktionsfeld der öffentlichen Gesundheitssicherung insgesamt aufzuklären, seine Dynamik zu verstehen und entsprechende Maßnahmen herauszuarbeiten: „Health is a crossroad” - so Julio Frenk: „It is where biological and social factors, the individual and the community, and social economic policy all converge.”

Abstract

Any person actively engaged in the sphere of Public Health who refers to „molecular medicine” is bound to arouse suspicion. Nevertheless, neither Public Health nor public health protection or the health sciences in general can afford to ignore medicine and biology. This fundamental fact is explored in a historical and subsequently in an anthropological context. The connections between molecular medicine and public health are discussed at length. Accordingly, health on an individual as well as on a social level is essentially bound to the knowledge of genetically determined dispositions. We may expect that this molecular-genetic reality will become as „true” in future as the hygienic-bacteriological reality has become „true” today. The medicalisation of all human realities will be continued by their „molecularisation”. It is important to fundamentally understand the actual effects of this transformation, which is the subject of a wider public discussion. This is the only way to rationally estimate both the opportunities offered by molecular medicine and the involved risks. It is essential for a debate of this kind within public health care institutions that the public health movement addresses the current developments of molecular medicine in a critical but constructive manner. „Nature”, and with it the medicine and biology of public health, is an essential aspect of protecting public health. This is the only way to clarify the sphere of activity of public health protection in general, to appreciate its dynamics and to develop adequate measures: „Health is a crossroad” according to Julio Frenk: „It is where biological and social factors, the individual and the community, and social economic policy all converge”.

Anmerkungen

  • 1 Dieser Text folgt weitgehend dem gleichnamigen Vortrag anlässlich der Festveranstaltung „30 Jahre Akademie für öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf” am 27. Juni 2001. Der Frage von Herrn Prof. Dr. med. Johannes Gostomzyk, den Vortrag einem breiteren Publikum bekannt zu machen, komme ich gerne nach. 
  • 2 Frenk J. The new public health.  Annual Revue Public Health. 1993;  14 469-490
  • 3 Internet: http://www.icml.org/sunday/plenary1/frenk.htm: Frenk, 1953 in Mexico-City geboren, war, als er den soeben zitierten Aufsatz veröffentlichte, am Center for Population and Development Studies der Harvard University, Cambridge, Mass., tätig. Seit 1998 ist er „Executive Director in charge of Evidence and Information for Policy at the World Health Organisation” in Genf. Weitere Hinweise zu seiner Vita sind der hier angegebenen Internet-Adresse zu entnehmen. 
  • 4 Auch dieser Begriff stammt aus dem Umkreis Gottsteins; vgl. Gottstein A, Schlossmann A, Teleky L (Hrsg). Handbuch der sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge. Berlin: Springer. Bd.1-6. 1925-1927, ebd. 1. Bd.: Grundlagen und Methoden. Berlin: Springer. 1925: v-vii: Vorwort: (v) „Gesundheitswissenschaft”. 
  • 5 Zu Adolf Gottstein s. ausführlich Koppitz U, Labisch A (Hrsg) .Adolf Gottstein - Erlebnisse und Erkenntnisse. Nachlass 1939/1940. Autobiographische und biographische Materialien. Mit einem Vorwort von Klaus und Ulrich Gottstein Berlin u.a; Springer 1999
  • 6 Die mehr oder weniger ausdrücklichen, offenbar unvermeidlichen gesundheitlichen Utopien der Genetik und die daraus resultierenden eugenischen Schlussfolgerungen werden in der Literatur immer wieder angesprochen. Vgl. u. v. a. Dunn LC, Cross currents in the history of human genetics. American Journal of Human Genetics 1962; 14: 1-13; Kevles DJ. In the Name of Eugenics - Genetics and the Uses of human Heredity. New York: Knopf. 1985; Weß L (Hrsg). Die Träume der Genetik - Gentechnische Utopien von sozialem Fortschritt (= Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 6). Nördlingen: Greno. 1989; 2. Aufl. 1998; Silver LM. Das geklonte Paradies - Künstliche Zeugung und Lebensdesign im neuen Jahrtausend. München: Droemer. 1998 (orig.: Remaking Eden - Cloning and beyond in a brave new World. Avon, New York: Morrow. 1997); Kitcher P. Genetik und Ethik - Die Revolution der Humangenetik und ihre Folgen. München: Luchterhand. 1998 (Orig.: The Lives to come - The genetic Revolution and human Possibilities. New York: Simon & Schuster. 1996). Vgl. hierzu auch Paul N. Anticipating molecular medicine - Smooth transition from biomedical science to clinical practice? American Family Physician 2001; 63: 1704f.; ders. Understanding values in the transition to molecular medicine. NTM, International Journal of History and Ethics of Natural Sciences, Technology and Medicine (im Druck). 
  • 7 Zur Entwicklung und zum Stand der Proteomics vgl. Burley SK u. a.. Structural genomics - Beyond the human genome project. Nature Genetics 1999; 23: 151 - 156; Maelicke A. Proteomics. Nachrichten aus Chemie, Technik und Laboratorium. Zeitschrift der GDCh 1999; 47; Nr. 12: 1433 - 1435; Williams KL. Genomes and proteomes - Towards a multidimensional view of biology. Electrophoresis 1999; 20; Nr. 4/5: 678 - 688; Lander ES, Weinberg RA. Pathways of discoveries - Genomics: journey to the center of biology. Science 2000; 287: 1777 - 1782. 
  • 8 Zur Begriffsklärung: Ein Genom umfasst die gesamte genetische Information eines Individuums. Jede Zelle enthält die komplette Kopie des Genoms. Der Begriff Genomics umschreibt die Charakterisierung und Sequenzierung des Genoms sowie die Analyse der Verhältnisse von Genaktivität und Zellfunktion. Ein Proteom umfasst das gesamte Proteinprofil einer Zelle oder eines Gewebes zu einer gegebenen Zeit. Der Begriff Proteomics umschreibt die systematische Analyse des Proteinprofils von gesundem und krankem Gewebe mit Bezug auf die jeweils aktiven Gene. 
  • 9 Vgl. jetzt in Übersicht: Pandey A, Mann M. Proteomics to study genes and genomes. Nature 15. Juni 2000; 405: 837-846. 
  • 10 Goedecke A. et al . Disruption of myoglobin in mice induces multiple compensatory mechanisms.  Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America. 1999;  96 10495-10500
  • 11 Honnefelder L, Propping P. (Hrsg) .Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?. Köln; DuMont 2001
  • 12 Vgl. zum Folgenden ausführlich Paul N. Molekulare Prädiktion - Ein Weg zur molekularen Prävention? Gesundheitswesen 2001; 63 (SH; im Druck). 
  • 13 Zu den kategorialen Denkfehlern und der biologischen Unmöglichkeit dieser Vorstellungen vgl. Dunn. Cross currents. 1962: 10: „Such schemes (i. e.: of eugenicism) assume that there is an ideal genotype for a human being. (...)/11 Can human cultures be maintained by an ideal genotype? (...) are there objective scientific criteria by which they might be selected?”; Davis B. Germ-line therapy - Evolutionary and moral considerations. Human Gene Therapy 1992; 3: 361 - 363, verweist darauf, dass die meisten Gene, die homozygot zu einer monogenen Krankheit führen können, rezessiv und damit unbemerkt in der Bevölkerung vorkommen, und dominant vererbte „Gendefekte” in den meisten Fällen durch Neumutation entstehen; daher sei das Ideal einer „Reinigung des Genpools” überhaupt nicht zu erreichen. Vgl. trocken und klar auch Reich J. Die Utopie von der Verbesserung der genetischen Konstitution des Menschen. Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 1999; 4: 5-12. 
  • 14 Brand A. Screening auf genetische Erkrankungen - Pro und Contra. In: Schwinger E, Dudenhausen JW (Hrsg). Nichtdirektive humangenetische Beratung - Molekulare Medizin und genetische Beratung - Ein Leitfaden der Stiftung für das behinderte Kind zur Förderung von Vorsorge und Früherkennung, (= Umwelt und Medizin). Frankfurt a. M.: Med. Verl.-Ges. Umwelt und Medizin. 1999: 36-46, das Zitat ebd. 46. 
  • 15 Holtzman N A. Proceed with caution - Predicting genetic risks in the recombinant DNA era (= The Johns Hopkins series in contemporary medicine and public health). Baltimore u. a.  John Hopkins Univ. Pr. 1989; 
  • 16 Holtzman N A, Marteau T M. Will genetics revolutionize medicine?.  The New England Journal of Medicine. July 13, 2000;  343 (2) 141-144
  • 17 Holtzman Marteau. Will genetics revolutionize medicine?.  2000;  143f
  • 18 Frenk. New Public Health. 1993; 

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. phil. M.A. (Soz.) Alfons Labisch

Geschäftsführender Direktor, Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Universitätsstr. 1

40225 Düsseldorf

Email: histmed@uni-duesseldorf.de

URL: http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/MedFak/HistMed/welcome.htm

    >