Suchttherapie 2002; 3(S2): 83-84
DOI: 10.1055/s-2002-35254
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

EditorialArthur Günthner1 , Jens Reimer2
  • 1Fachklinik Eußerthal der LVA Rheinland-Pfalz, 76857 Eußerthal
  • 2Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung Hamburg
Further Information

Publication History

Publication Date:
19 November 2002 (online)

Leitlinien in der Suchtmedizin - Wirkungen und Nebenwirkungen

Leitlinien (engl. clinical practice guidelines) sind systematisch entwickelte Darstellungen und Empfehlungen mit dem Zweck, Ärzte und Patienten bei der Entscheidung über angemessene Maßnahmen der Krankenversorgung (Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge) unter spezifischen klinischen Umständen zu unterstützen (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, AWMF online, 9.4.2002; siehe http://www.awmf-leitlinien.de sowie http://www.leitlinien.de).

Die Frage nach dem „richtigen Tun” stellt sich für Leitlinien in zweifacher Weise. Zum einen geht es um die Frage nach der „richtigen” bzw. „guten medizinischen” Praxis im Rahmen der Krankenversorgung bzw. der angemessenen ärztlichen Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen (Leitlinien-Inhalt). Zum anderen geht es um die Frage, wie wir vorgehen können und sollen, um diese „richtige” medizinische Praxis zu ermitteln (Leitlinien-Prozess). Die erste Frage ist fachlich-inhaltlicher Art, die zweite Frage ist theoretisch-philosophischer Art. Für die Beantwortung beider Fragen sind Konsensprozesse wesentlich.

Für den Leitlinien-Prozess haben sich die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und die Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung „ÄZQ” (gemeinsame Einrichtung von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung) im Sommer 2000 auf eine gemeinsame Methodik für die Entwicklung und Implementierung ärztlicher Leitlinien geeinigt. Diese Vorstellungen sind im „Leitlinienmanual von AWMF und ÄZQ” dargelegt. Die Inhalte des Leitlinien-Manuals orientieren sich an den international akzeptierten Qualitätskriterien für Leitlinien. Des Weiteren wurde 1999 unter Beteiligung von Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV), Deutscher Krankenhausgesellschaft (DKG) und den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) das Leitlinien-Clearingverfahren gegründet, dem ab Januar 2002 die gesetzliche Rentenversicherung (VdR und BfA) und der Verband der privaten Krankenversicherung beitraten. Das Leitlinien-Clearingverfahren soll als institutionelles Verfahren zur „kritischen Bewertung von Leitlinien” dienen „mit dem Ziel der Transparenz, Praktikabilität, Wissenschaftlichkeit und Wirtschaftlichkeit im Bereich der Leitlinien”.

Vorrangiges Ziel von Leitlinien nach dem Leitlinien-Manual „ist die Bereitstellung von Empfehlungen zur Erreichung einer optimalen Qualität der Gesundheitsversorgung. Leitlinien haben dabei die Aufgabe, das umfangreiche Wissen (wissenschaftliche Evidenz und Praxiserfahrung) zu speziellen Versorgungsproblemen zu werten, gegensätzliche Standpunkte zu klären und unter Abwägung von Nutzen und Schaden das derzeitige Vorgehen der Wahl zu definieren, wobei als relevante Zielgrößen (Outcomes) nicht nur Morbidität und Mortalität, sondern auch Patientenzufriedenheit und Lebensqualität zu berücksichtigen sind” (Leitlinien-Manual, Kap. 1.1).

Was bedeutet diese Entwicklung für die Suchtmedizin? Suchterkrankungen sind in der Regel chronische Erkrankungen, bei deren Behandlung die jeweiligen Zielperspektiven nicht selten über mehrere Jahre reichen, sich auf viele Aspekte der körperlichen und psychischen Gesundheit beziehen und oft eine Vielzahl von Bezugspersonen unterschiedlicher Profession (z. B. Ärzte, Psychologen, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter), institutioneller Zugehörigkeit (z. B. Praxis, Klinik, Beratungsstelle) oder persönlicher Beziehung (z. B. Angehörige, Freunde) tangieren. Die Vorstellungen der „richtigen” bzw. „guten medizinischen Praxis” variieren im Suchtbereich noch immer beträchtlich. Der „Kampf gegen die Drogen” ist oft auch verbunden mit dem „Kampf der Konzepte”. Evidenzbasierte Ansätze sind zwar vorhanden, jedoch hauptsächlich im pharmakologischen Bereich entwickelt und selten unter variablen Rahmen- oder Feldbedingungen untersucht. Das Beispiel und die Geschichte der Substitutionsbehandlung von Opioidabhängigen zeigt eindrucksvoll, wie im Suchtbereich lange Jahre weniger die verfügbare Evidenz als vielmehr gesellschaftliche und wissenschaftsferne Einflüsse die therapeutische und gesellschaftliche Praxis im Umgang mit Drogenabhängigen geprägt haben. Insofern ist uns allen als professionellen Helfern im Suchtbereich zu wünschen, dass der Zeitgeist der fachlichen Qualität und wissenschaftlich-praktischen Evidenz auch in Zeiten gesundheitsökonomischer Turbulenzen und gesundheitspolitischer Drahtseilakte mehr Bedeutung und Einfluss gewinnt.

Eine der häufig gestellten Kernfragen bei der Behandlung von Patienten, auch in der Suchtmedizin, ist die nach der Notwendigkeit, besonders unter Berücksichtigung ökonomischer Gesichtspunkte. Die Notwendigkeit von Leitlinien in der Medizin wird vorrangig mit dem Ziel einer Vermeidung von Überfluss und Defiziten begründet, um das Notwendige zu ermöglichen [1]. Die Definition des Notwendigen in der Versorgung suchtkranker Patienten unterliegt traditionellerweise einer großen Spannbreite, die maßgeblich vom Erfolgskriterium abhängt. So ist das Spektrum des Notwendigen schmaler, wenn Abstinenz gefordert wird, und breiter, wenn ein Harm-Reduction-Konzept zugrunde gelegt wird. Je nach Standpunkt sollte z. B. eine Substitutionsbehandlung bei opiatabhängigen Patienten in Abhängigkeit von Komorbiditätsfaktoren zeitlich begrenzt oder grundsätzlich unbegrenzt sein, das Ziel der Behandlung vorrangig der Abstinenz oder zunächst vorrangig der Harm Reduction dienen. Schon die bloße Existenz einer Ersatzvornahme durch das Bundesministerium für Gesundheit zur substitutionsgestützten Behandlung bei „alleiniger” Opiatabhängigkeit und umso mehr die folgende juristische Auseinandersetzung machen das weite Spektrum der Behandlungsparadigmen überdeutlich (http://www.bmgesundheit.de). Ein weiteres Beispiel stellt die Behandlung Drogenabhängiger bei somatischer Komorbidität dar. Bis zu 95 % der intravenös Drogengebrauchenden sind mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert, das in ca. 15 % der Fälle zur Leberzirrhose und in ca. 7 % der Fälle zu einem hepatozellulären Karzinom führt. Entsprechend der aktuellen Leitlinien wird eine antivirale Kombinationstherapie erst nach einer Abstinenz von 6 bis 12 Monaten empfohlen [2]. Nebenwirkungen eines restriktiven Duktus von Leitlinien im Bereich der Suchtmedizin können sich in einem Anstieg der Komorbidität bemerkbar machen, für deren Therapie die gleichen Leitlinien dann u. U. keine ausreichende Grundlage bieten. Evidenzbasierte Literatur für das Vorenthalten einer antiviralen HCV-Therapie unter Methadonsubstitution oder im Anschluss an eine Entgiftungsphase lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht finden. Die breite Fächerung der Definition des Notwendigen erweitert sich neben der Varianz durch die Orientierung an verschiedenen Erfolgskriterien auch durch die Einflechtung der Eigeninteressen der verschiedenen Leistungserbringer im suchtmedizinischen Kontext. Dieser Prozess ist ein Fakt, der einer kritischen Reflexion bedarf. Die Schaffung von Transparenz muss der erste Schritt sein. Die großen Chancen der Diskussion über und zu Leitlinien ihrem eigentlichen Sinne nach liegen darin, die Rahmenbedingungen und regionalen Besonderheiten einer Behandlung facettenreich zu thematisieren. Dies könnte vor allem auch niedergelassenen Ärzten und Therapeuten zugute kommen, die auf realitäts- und praxiskompatible Leitlinien unter Berücksichtigung der sozialen Wirklichkeit und Alltagswelt, der Patienten und ihrer eigenen, angewiesen sind. Andernfalls wird der evidenzgeschneiderte Maßanzug allzu schnell als Zwangsjacke empfunden oder als unpassend verworfen.

Auch in der Suchtmedizin sind die jeweiligen Fachgesellschaften mit ihren Mitgliedern aufgefordert, sich an dem Prozess der Leitlinien-Entwicklung und -Diskussion zu beteiligen und ihre Kompetenz einzubringen. Hierfür sind geeignete Foren wichtig, um die verschiedenen Strömungen aus Praxis, Klinik und Forschung zusammenzuführen. Dabei sollten wir Leitlinien als (hoffentlich gut gemeinte) Vorschläge und Hypothesen über die „gute medizinische Praxis” ansehen, die wir sine ira et studio (ohne Zorn und Eifer) erörtern, im besten Sinne des kritischen Rationalisten und Wissenschaftsphilosophen Sir Karl Poppers, der uns den Rat gab, lieber Hypothesen sterben zu lassen als die Menschen, die sie vertreten.

Literatur

  • 1 Gerlach F M, Beyer M, Szecsnyi J. et al . Leitlinien in Klinik und Praxis.  Dt Ärztebl. 1998;  95 A1014-A1021
  • 2 EASL International Consensus Conference on Hepatitis C. Consensus Statement.  J Hepatol. 1999;  30 956-961

Zum Gelingen des Kongresses haben neben vielen Personen auch pharmazeutische Firmen und Institutionen mit finanzieller Förderung beigetragen. Wir danken daher

addiCare GmbH
Aventis Pharma Deutschland GmbH
AWD.pharma GmbH & Co. KG
Bio-Rad Laboratories GmbH
CompWare Medical GmbH
ESSEX PHARMA GmbH
MAHSAN Diagnostika Vertriebs GmbH
Microgenetics GmbH
Sanofi-Synthelabo GmbH
ökonomed GmbH
von minden GmbH

Dr. med. Jens Reimer

Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung, Universität Hamburg

Martinistraße 52

20246 Hamburg

    >