Erfahrungsheilkunde 2002; 51(10): 703-712
DOI: 10.1055/s-2002-35079
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Karl F. Haug Verlag, in: MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Aminosäuren und Vitalstoffe als Immunonutrition bei Erkrankungen aus dem allergischen Formenkreis

Claus Muss
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Publication Date:
25 October 2002 (online)

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Einführung

Allergische Reaktionen gehören zu den häufigsten Symptomen der immunologischen Dysbalance. Etwa ein Drittel der Bevölkerung leidet unter der Volkskrankheit Allergie. Ca. 30 Millionen Bundesbürger sind allergisch sensibilisiert, 12 Millionen leiden unter Heuschnupfen und ca. 4 Millionen Patienten sind an Asthma bronchiale erkrankt. Der Prozentsatz der Patienten mit Nahrungsmittelallergien wird in der Literatur mit z.T. über 10% in der Bevölkerung angegeben [[10], [25], [37]].

Die Bedeutung der intestinalen Allergie für den allgemeinen Sensibilisierungsprozess des Allergikers wird jedoch häufig unterschätzt. Gemeinsame Epitope zwischen Nahrungsmitteln und exogenen Allergenen können für das Auftreten von Kreuzallergien sorgen. Dadurch wird bei Patienten mit exogener Allergenisierung gegenüber bestimmten Pollen auch nicht selten eine gewisse Unverträglichkeit gegenüber bestimmten Nahrungsmitteln beobachtet (orales Allergiesyndrom). So weisen z.B. Birkenpollenallergiker zwischen 50-70% auch Nahrungsmittelunverträglichkeiten auf [[8]]. Es scheint daher möglich, dass intestinale Allergien auch als Wegbereiter einer Pollinosis fungieren (Pollen-assoziierte Nahrungsmittelallergie) bzw. der Sensibilisierung mit exogenen Allergenen Vorschub leisten können [[46]]. Aufgrund der bestehenden Kreuzreaktionen ([Tabelle 1]) können insbesondere während der Pollenflugzeit additive Belastungen auftreten [[4]].

Tabelle 1: Kreuzallergien zwischen exogenen Allergenen und Nahrungsmitteln (Nach Kirkamm und Schütz). Pollen- und Gräser-Allergien Mögliche kreuzallergene Reaktion mit Nahrungsmittelallergen Birke Grüner Apfel, Birne, Kirsche, Pflaume, Haselnuss, Walnuss, Karotte, Sellerie, Tomate, Gewürze Eiche Apfel, Anis, Haselnuss, Walnuss, Karotte, Sellerie, Kernobst, Nüsse Erle Apfel, Anis, Haselnuss, Walnuss, Karotte, Sellerie, Kernobst, Nüsse Gräser Erdnuss, Soja, Tomate, Sellerie, Kernobst Roggen Getreide, Hülsenfrüchte, Soja, Bohne, Banane, Melone Weizen Hülsenfrüchte, Soja, Banane, Melone

Gegenüber den klassischen Allergien müssen Idiosynkrasien unterschieden werden, die eine andere Pathogenese aufweisen. Letztere treten als qualitativ abnorme Empfindlichkeitsreaktionen auf und sind häufig die Folge von pseudoallergischen Reaktionen nach Verzehr von Lebensmittelzusatzstoffen (Konservierungsstoffe, Farbstoffe und Geschmacksstoffe). Als Auslöser von Intoleranzen spielen weiterhin auch biogene Amine wie Histamin oder Tyramin in Käse und Fischfleisch eine Rolle.

Die Diagnose einer klassischen Lebensmittelallergie ist in der Praxis schwierig zu stellen, da sie selten einem Alles-oder-Nichts-Gesetz unterliegt und akut, subakut oder chronisch verlaufen können. Aus diesem Grund liegt nicht selten ein langer Zeitraum zwischen Beschwerdebeginn und Diagnose. Die Probleme bei der Diagnostik von Nahrungsmittelallergien beruhen auf der Vielfalt klinischer Reaktionsweisen und auf der Vielzahl möglicher Auslöser wie z.B. Nahrungs- und Genussmittel, Bestandteile, Zusatzstoffe etc. [[52]].

Die vielfältigen Pathomechanismen und die Inkonstanz und Variabilität der klinischen Symptomatologie von Nahrungsmittelallergien erschwert häufig die Diagnose ([Tabelle 2]). Symptomarme, subklinische Verläufe bleiben daher manchmal für lange Zeit unerkannt. Der uncharakteristischen Symptomatologie steht eine breite Palette verschiedener gastrointestinaler Differentialdiagnosen gegenüber, so dass der Verdacht oft erst nach umfangreicher Differentialdiagnostik erhoben wird. Für die spezifische Reaktion sind der jeweilige Sensibilisierungsgrad und die unterschiedliche allergene Potenz sowie die Höhe der Allergenzufuhr verantwortlich. Auf die Symptomatik nehmen weiter Zubereitungsformen des allergenen Nahrungsmittels (roh, gekocht) und die mögliche Summation durch den gleichzeitigen Genuss mehrerer unterschwelliger Allergene Einfluss. Die Symptomatik der Nahrungsmittelallergien wird ferner durch individuelle konditionierende Faktoren, wie z.B. der Exposition mit Pollenallergenen oder unspezifischen Trigger-Faktoren (Alkohol und Gewürze) bzw. durch hormonelle Schwankungen beeinflusst [[51], [52]].

Tabelle 2: Manifestation von intestinalen Nahrungsmittelallergien (modifiziert nach Thiel 2001). Stomatitis Ösophagitis Reizmagen Duodenitis Hypersekretion und Motilitätsstörungen (Durchfall) Colon irritabile spastische Obstipation Pankreatitis Parotitis Bilirubinämie

Für die Diagnose einer intestinalen Allergie bedarf es grundsätzlich nicht eines einzelnen Kriteriums, sondern einer Vielzahl objektivierbarer Kriterien ([Tabelle 3]). Die Diagnose von Nahrungsmittelallergien (s. auch [Tabelle 4]) ist u.a. im Hauttest möglich. Dabei erschweren aber die Instabilität mancher Nahrungsmittelallergene und unspezifische Hautreaktionsweisen bei Atopikern die Diagnose. So weisen Neurodermitiker in bis zu 65% falsch positive Reaktionen auf getestete Nahrungsmittel auf [[4]]. Die serologische Antikörperbestimmung liefert gegenüber dem Hauttest als therapeutische Verlaufskontrolle bei Allergenkarenz quantifizierbare Untersuchungsergebnisse [[24]]. Allerdings liegt der prädiktive Wert eines positiven RAST auch nur unter 50%.

Tabelle 3: Kriterien einer intestinalen Nahrungsmittelallergie (modifiziert nach Thiel 2001). Allergische Symptome: Asthma, Ekzeme, Urtikaria, Quincke-Ödem Atopische Erkrankungen in der Familie Frühkindliche Nahrungsmittelallergie Ausweitung des Allergiespektrums Pollinosis postprandiale Symptome Polysymptomatik Unklare Differentialdiagnostik Alter 0-50 Jahre

Tabelle 4: Untersuchungsparameter bei Allergien und entsprechende Untersuchungsmedien. RAST Serum CAST Serum Histamin Urin Alpha-1-Antitrypsin Stuhl

Beim Radio-Allergo-Sorbent-Test (RAST) werden spezifische Allergene an eine Matrix gekoppelt und mit dem Patientenserum inkubiert. Sind spezifische IGE-AK im Serum vorhanden, binden sie das Antigen und können mit einem Antiserum radioaktiv oder enzymatisch nachgewiesen werden. Der RAST ermöglicht den Nachweis spezifischer AK bei Sofort-Typ-Allergien. Hiermit können sowohl Allergien vom Soforttyp (IgE) als auch verzögerte bzw. maskierte IgG-vermittelte Allergien diagnostiziert werden [[32]]. Letztere können zeitversetzt innerhalb 8-72 h nach der Nahrungsaufnahme auftreten. Im CAST werden allergische Reaktionen indirekt über die Messung von Sulfidoleukotrienen erfasst. Als Therapiekontrolle eignen sich ferner neben diesen klassischen Parametern auch moderne Bestimmungsmethoden, wie das Histamin und das Eosinophile Cationic Protein (ECP). Histamin zählt zu den wichtigsten Mediatoren des Gastrointestinums und des Immunsystems. Es entsteht durch enzymatische Decarboxylierung der Aminosäure Histidin. Histamin kommt in allen Zellen vor, besonders in den metachromatischen Granula der Mastzellen und der basophilen Granulozyten. Es besitzt eine zentrale Bedeutung für die Anaphylaxie.

Als Gewebshormon, das in den Granula der IGE-beladenen Mastzellen und basophilen Leukozyten gebildet wird, steuert Histamin multiple Reaktionswege der Allergie. So reagiert Histamin mit H1-Rezeptoren im Gewebe und fördert ebenfalls die Kapillar- und Schleimhautpermeabilität im Intestinum. Außerdem trägt Histamin zur Ödematisierung der Schleimhaut und Reizung sensibler Nervenfasern bei. Die gesunde Dünndarmschleimhaut ist in der Lage, bis zu 60% des Nahrungshistamins zu binden, so dass nur etwa 40% resorbiert werden. Diese Bindungsfähigkeit der Darmschleimhaut ist allerdings starken Schwankungen unterlegen. Der Histaminabbau wirkt der Ausbildung allergischer Symptome entgegen [[31]].

Literatur

Dr. Dr. med. Claus Muss

Ernährungsmediziner und Immunologe

Bahnhofstr. 8

86150 Augsburg