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DOI: 10.1055/s-2002-34540
„Man weiß nie so genau” - Psychose als Irritation
Publication History
Publication Date:
09 October 2002 (online)

Die Psychosen, speziell die schizophrenen, nehmen unter den psychischen Störungen eine ganz „besondere” Rolle ein.
Das Erleben von eigenartiger Fremdartigkeit macht sie einerseits oft bedrohlich und angsteinflößend, andererseits gelegentlich auch faszinierend. Psychotisches Verhalten drückt oft starke Ambivalenz aus und löst im Umfeld ebensolche aus. Das gleichzeitige und gleichberechtigte Erleben ganz widersprüchlicher Gedanken und Gefühle und das gleichzeitige und gleichberechtigte Aussenden ganz widersprüchlicher Signale sorgen dafür, dass rund um Psychosen meist sehr viel geschieht, aber selten etwas vorangeht. Die Beobachtung psychotischen Erlebens und Verhaltens regt verschiedene Beobachter zuweilen zu sehr gegensätzlichen Handlungsideen an und fördert Stellvertreterkonflikte in Familien, in Behandlerteams, in der Scientific Community. Die Extrempunkte sind die Sicht der Psychose als eines tristen kognitiven Defizits einerseits, als eines faszinierenden kreativen und kommunikativen Geschehens andererseits - „der Psychotiker” als vulnerabler Behinderter oder als ein Rebell, der die Spuren seiner Rebellion in der Kommunikationsverweigerung verwischt.
In der Geschichte der Psychiatrie und der Psychotherapie hat kaum eine andere Störungsgruppe so viele Wechsel der Behandlungstheorien und -praktiken durchlebt. In religiösen Gesellschaften wurde sie oft dem Einfluss von Geistern zugeschrieben, die mit exorzismusähnlichen und oft für den Patienten brutalen Praktiken zu vertreiben waren. Um 1800 von ihren Ketten freigemacht, wurden die Patienten Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Opfer eines hirnorganischen Prozesses angesehen und behandelt, der mit gewisser Zwangsläufigkeit in eine frühzeitige Verblödung (Dementia praecox) führen sollte. Während der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers das schizophrene Erleben zum grundsätzlich Uneinfühlbaren und Unverständlichen erklärte, versuchten kurze Zeit später in den USA Pioniere der Psychotherapie der Psychosen, wie Frieda Fromm-Reichmann und Harry Stuck Sullivan, selbiges den Patienten und der Nachwelt verstehbar zu machen.
Jahrhundertelang waren die Auffälligen unter den Psychoseerfahrenen in Asylen von der Gesellschaft abgesondert worden. Mitte des vergangenen Jahrhunderts schufen zunächst die neuroleptischen Medikamente, dann die sozialpsychiatrische Bewegung Voraussetzungen für die Rückkehr der Psychosen ins Alltagsleben. Mit großem Schwung und Engagement kämpften in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verschiedene Behandlungsrichtungen gegeneinander: die Protestbewegung des „Freiheit heilt” gegen die behutsame Protektion; die konflikt- und beziehungsorientierten Psychotherapien gegen die neurobiologischen Praktiken, die Gemeinde- gegen die Anstaltspsychiatrie.
Die Mehrheit der Psychotherapeuten traut sich bis heute an psychotische Phänomene nicht oder nur zögerlich heran, von den biologischen Psychiatern darin meist nachhaltig unterstützt und gelegentlich in der Furcht gehalten. Aber eine Minderheit von Kolleginnen und Kollegen, gut verteilt über die verschiedenen Therapieschulen, hat seit Jahrzehnten Menschen mit Psychoseerleben behandelt.
Ihre Erfahrungen haben wir in diesem Heft gesammelt und wollen sie auch jenen zur Verfügung stellen, denen die Psychotherapie der Psychosen bislang noch als schwierige Geheimkunst erscheint.
Wir sind froh und stolz, dass wir mit wenigen Ausnahmen die Pioniere und führenden Theoretiker und Praktiker der Psychosen-Psychotherapie für dieses Heft gewinnen konnten. Wir haben uns um ein breites, auch kontroverses Perspektivenspektrum bemüht. Wir haben renommierte Psychoseerfahrene und Angehörige - so etwas gibt es inzwischen ja auch - um ihre Erfahrungen und Vorschläge gebeten und damit eine Außenperspektive der „Nutzer” auf das Tun der Psychotherapeuten erhalten. Wir haben schließlich eine Reihe von integrativen Behandlungssettings und Dialogformen in das Heft integriert: von den Psychoseseminaren über das Klinikprojekt „Persist” und die systemischen Kooperationsgespräche bis zur psychiatrischen Sozialarbeit. Wenige „Störungsbilder” bieten derart interessante Herausforderungen für die Integrationsdebatte.
Bewusst haben wir dieses Heft als ein psychotherapeutisches gestaltet. Die Diskussion mit der Neurobiologie, der Pharmakotherapie und der Sozialpsychiatrie findet nur am Rande statt.
Jochen Schweitzer, Heidelberg
Harald J. Freyberger, Greifswald