Zentralbl Gynakol 2002; 124(5): 254-257
DOI: 10.1055/s-2002-34098
Übersichten

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychologische Aspekte der Lebensführung und Prävention

Psychological Aspects of LifestyleB. Schultz-Zehden
  • Freie Universität Berlin, Institut für Medizinische Psychologie des ZHGB, Berlin
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Publication Date:
16 September 2002 (online)

In den letzten Jahren hat sich immer deutlicher gezeigt, dass der Fortschritt in der Medizin nur zusammen mit einer gesundheitsbewussten Lebensführung zu einem wirklichen Fortschritt führen kann. Trotz einer im Vergleich zum Mann im Durchschnitt 6-7 Jahren höheren Lebenserwartung der Frau belegen epidemiologische Studien häufigere Erkrankungen bei den Frauen. Mädchen und junge Frauen leider häufiger an psychosomatischen Beschwerden und Kreislaufstörungen. Frauen leiden dreimal häufiger an Rheumatoider Arthritis, an Migräne und doppelt so häufig an Morbus Alzheimer oder an multipler Sklerose. Eine von 10 Frauen erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. 80 % derjenigen, die unter Osteoporose leiden, sind Frauen. Eine Hypothese in diesem Zusammenhang lautet, dass es sich hierbei möglicherweise um ein methodisches Artefakt handeln könnte, da die überlebenden Männer im Alter relativ zu den bereits verstorbenen gesünder sind und so in geschlechtsvergleichenden Statistiken die Gruppe der Frauen als verhältnismäßig „kränker” dasteht. Durch die höhere Lebenserwartung kumuliert die Morbidität im Alter der Frau. Das Ziel ist also die frühe Erfassung von Risikofaktoren und deren rechtzeitige Modifikation, um das Auftreten bestimmter Erkrankungen entweder ganz zu verhindern oder die Komprimierung in ein höheres Alter zu verschieben [1].

Es gibt viele Theorien und Vermutungen, warum die Lebenserwartung der Frau höher ist als die des Mannes. Außer genetischen und biologischen Gründen werden auch soziale Gründe diskutiert. Geschlechtsvergleichende Untersuchungen zum Gesundheitsverhalten zeigen, dass Frauen ein höheres Gesundheitsinteresse haben und häufiger Gesundheitsangebote wahrnehmen [2]. Sie suchen früher und häufiger schon bei relativ kleinen Erkrankungszeichen den Arzt auf; sie reagieren schon auf feine Signale bei niedriger Bedrohung sensibel, wohingegen Männer sich im Sinne eines Repressor-Verhaltens oft in unangebrachtem Optimismus als subjektiv gesünder einschätzen als sie real sind und häufig erst sehr spät ärztliche Hilfe suchen [3]. Frauen sind offenbar eher bereit, Schwächen einzugestehen und sich als krank zu bezeichnen. Dafür spricht die hohe Frequenz von Arzt-Konsultationen pro Jahr bei den Frauen. In der Altersgruppe 50 bis 70 sind es 85 %, die ihren Hausarzt durchschnitttlich 8-mal im Jahr aufsuchen [4]. Diese Zahl bezieht sich nur auf den Hausarzt und nicht noch auf die Konsultation eines anderen Facharztes. Wir wissen, dass von Seiten der Frauen ein hoher Gesprächsbedarf mit dem Arzt über eine Vielzahl gesundheitlicher Themen besteht, dem oft nicht hinreichend nachgegangen wird. Immerhin jede zweite Frau möchte mit ihrem Arzt über das Brustkrebsrisiko sprechen (Abb. [1]). Ein weiteres Ergebnis der 1 000-Frauen-Studie zeigte, dass 62 % zudem regelmäßig zum Gynäkologen gehen, die jüngere Frau tut das noch häufiger (Abb. [2]). Bei der jüngeren Frau übernimmt der Gynäkologe oftmals die Hausarztfunktion. Auf diese Weise entsteht eine hohe Bindung mit lebenslangem Beratungscharakter, weshalb die Gynäkologie für die Präventivmedizin ein besonders geeignetes und ergiebiges Fach ist.

Abb. 1 Gesprächsbedarf mit dem Arzt.

Abb. 2 Besuche beim Gynäkologen.

Im Bereich der Prävention spielen folgende psychologische Aspekte eine wichtige Rolle: Unter welchen Umständen ist eine Person überhaupt bereit, sich präventiv zu verhalten? Wir müssen uns die Frage nach den individuellen Motiven einer Person stellen. Darüber hinaus gibt es zu bedenken, dass eine entsprechende Motivation nicht automatisch in gesundheitsrelevantes Verhalten mündet. Wenn es um die Compliance geht, beschäftigt uns immer wieder erneut die Frage, welche Faktoren die Compliance fördern und welche sie hindern.

Wann verändern wir unser Verhalten? Wann ist ein Individuum bereit, etwas für seine Gesundheit zu tun?

Mit Hilfe von Studien [5] zu dem am meisten zitierten und bekanntesten Modell zur Vorhersage von Gesundheitsverhalten, dem „Health-Belief-Modell” (Abb. [3]), konnte nachgewiesen werden, dass kognitiven Variablen die wichtigste Bedeutung beim Zustandekommen präventiver Maßnahmen zukommt. Danach kommt es dann zu präventivem Handeln, wenn ein Individuum

Abb. 3 Das „Health Belief Modell” (nach Becker et al., 1982).

Risiken für sein Leben oder seine Gesundheit erkennen kann (über eine so genannte Risikowahrnehmung verfügt). Diese ist abhängig von spezifischen Erfahrungen, die ein Individuum mit sich selbst/anderen gesammelt hat. Persönliche Erfahrung mit einer Krankheit erhöhen die Wahrscheinlichkeit zum gesundheitspräventiven Handeln. Inwieweit Eintrittswahrscheinlichkeit und Schweregrad einer Bedrohung (Erkrankung) realistisch eingeschätzt und nicht unter- oder überschätzt wird. Weiterhin dass ein Individuum sich grundsätzlich auch für verletzlich hält (nicht denkt „wenn, dann trifft es die anderen, aber nicht mich”). Ein Individuum muss daran glauben, dass eine Maßnahme auch einen bestimmten Wert für ihre Gesundheit hat und sich der ganze Aufwand und die Mühe auch wirklich lohnt (Wirksamkeit/Effektivität einer Maßnahme). Ein Individuum könnte sich beispielsweise fragen, ob es sich überhaupt lohnt, intensiv Sport zu treiben, um die Lebenserwartung vielleicht um zwei Jahre zu verlängern, wenn dieser Lebenszeitgewinn nämlich dem Zeitverlust durch den Sport selbst entspricht. Als Letztes ist die Selbstwirksamkeits-Erwartung anzuführen, damit gemeint ist ein gewisses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, ein bestimmtes Verhalten auch ausführen zu können.

Folgende psychologische Gründe lassen sich anführen, warum Individuen zu einem eher niedrigen Risikobewusstsein neigen:

Weil sie unbewusst aus einer Angst heraus eine gesundheitliche Bedrohung abwehren, Symptome verdrängen oder verleugnen. Weil sie sich mit Hochrisikogruppen vergleichen, und bei einem entsprechenden Vergleich immer besser abschneiden als die Hochrisikogruppe. Weil sie der Ansicht sind, über genügend protektive Faktoren zu verfügen. Fehlendes Wissen und der Mangel an eigener Erfahrung tragen zu einem „unrealistischen Optimismus” bei.

Kritisch betrachtet muss einem zu niedrigen Risikobewusstsein ein zu hohes Risikobewusstsein gegenübergestellt werden. Hierbei stoßen wir auf ein ethisches Problem. Um präventives Verhalten zu implementieren, muss das Gefühl vermeintlicher Nichtbetroffenheit aufgebrochen werden. Dabei haben wir es alles andere als mit einer frohen Botschaft zu tun, die Frauen für diverse Risiken zu sensibilisieren. Keiner Gesundheitsmaßnahme hat es bisher genutzt, Ängste bei Individuen zu erzeugen. Es stellt sich das Problem, ob nicht die Besorgnis, die durch falsche und übertriebene Risikoeinschätzung induziert wird, vielleicht sogar gesundheitsschädigend wirkt und Distress erzeugt. Ist das nun „der Preis der Prävention”? Was ist mit dem „realistischen” Risikobewusstsein in einer Welt, in der sich die Risiken geradezu überbieten, sich bisweilen gegenseitig widersprechen, sich alle paar Wochen ändern, wenn es nicht ganz und gar Eintagsrisiken sind?

Was gesundheitsspezifische Sorgen von Frauen sind, zeigt ein Ergebnis aus der 1 000-Frauen-Studie. Die meisten Sorgen, so wurde es in der Studie deutlich, machten sich die Frauen über das Krebsrisiko: Jede zweite Frau nannte Krebs allgemein, immerhin noch jede vierte Frau speziell Brustkrebs als Besorgnis erregendes gesundheitliches Risiko (vgl. Abb. [4]). Auffällig war, dass an zweiter Stelle bereits die Sorge um das Nachlassen geistiger Fähigkeiten (42 %) stand. Das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung wird von den Frauen leicht unterschätzt.

Abb. 4 Gesundheitsspezifische Sorgen.

Ein weiterer Punkt ist die Fremdkontrolle in der Gesundheitsförderung, die oft kontraproduktiv wirkt. Wir alle treffen auf eine Reihe von Gesundheitsgeboten - Verboten - Gesetzen oder anderweitige öffentliche Vorgaben (Bsp. „Du sollst nicht rauchen, du sollst nicht trinken, bei der Ernährung geraten wir dann in ein Geflecht solcher Gebote und Verbote!”). Hinzu kommt, dass widersprüchliche Informationen in den Medien zu einer allgemeinen Verunsicherung beitragen.

Vielen Präventionskampagnen, Vorsorgeangeboten, Früherkennungsmaßnahmen, fehlt es an Akzeptanz und an Effektivität, weil die individuellen motivationalen Bedingungen nicht genügend berücksichtigt werden. Die Vorstellung, Gesundheit sei in jedem Falle auch für die einzelne Frau das entscheidende Ziel, ist mehr von der Hoffnung der Forschenden getragen als realistisch. Man ist eher bereit, sich einer Diät zu unterziehen, um dem Partner zu gefallen oder den gängigen Schlankheitsnormen zu genügen als dem ärztlichen Rat Folge zu leisten. Eine solche Vorgehensweise wie die der Fremdkontrolle löst - psychologisch ausgedrückt - oft Reaktanz (Opposition, Trotz) bei dem Betreffenden aus. Eine Person fühlt sich unter Druck gesetzt, in ihrer Entscheidungs- und Verhaltensfreiheit eingeschränkt und ignoriert letztendlich die Warnung. Nur durch zusätzliche Maßnahmen einer psychosozialen Medizin kann hier die Bereitschaft zur Kooperation und eine Erhöhung der Compliance bei den Frauen erreicht werden. Die traditionellen Vorgehensweisen lassen zu wenig Selbstbestimmung oder wenigstens Mitbestimmung zu.

Was hat der Gynäkologe/in für Möglichkeiten, im Bereich der primären Prävention aktiv zu werden? Die beste Chance hat primäre Prävention durch eine „sprechende Medizin”. Wir wissen, Kommunikationsdefizite fördern die Non-Compliance und Unsicherheit, Zweifel, Angst oder Enttäuschung und Nichtbefolgen des ärztlichen Rates sind Reaktionen der Patientinnen. Die Aufklärung eignet sich als Methode der Prävention besonders zur Schaffung von Problembewusstsein, in einer ausführlichen Beratung kann die individuelle Risikoabschätzung erfolgen und der mit Sicherheit schwierigste Teil von ärztlicher Seite her ist, die Patientin zu einer präventiven Maßnahme zu motivieren und sie auch wirklich von dem Wert für sich selbst und für ihre Gesundheit zu überzeugen. Der Arzt muss demnach Motivations- und Überzeugungsarbeit leisten.

Ziel ärztlicher Bemühungen sollte die eigenverantwortliche Gesundheitsförderung durch die Frau selbst sein, wofür sie Instrumente der Selbstkontrolle nutzen kann. Die Eigensteuerung ist medizinpsychologisch deshalb effizienter als die Fremdsteuerungs-Doktrin, weil eine selbst kontrollierte Gesundheitsstrategie, wenn sie Erfolg zeigt, als Eigenbeitrag erlebt und so gewertet wird. Durch dieses feedback schleift sich das erwünschte gesundheitsrelevante Verhalten wirksam ein. „Verhaltenswirksam” ist dabei sicher das Prinzip der kleinen Schritte anzuwenden, um so Patienten zu führen, die Compliance zu fördern und damit das nötige Vertrauen des Patienten zu gewinnen.

Literatur

  • 1 Fries J F. Aging, natural death, and the compression of morbidity.  New England Journal of Medicine. 1980;  303 130-135
  • 2 Hinze L, Samland A, Swart E. Geschlechtsspezifische Gesundheitskompetenz der Frauen in der Praxis der Prävention - Ergebnisse einer regionalen Studie zur Inanspruchnahme von Gesundheitsförderungskursen. Vortrag auf dem Kongress der DGMP und DGMS. 29.-31. Mai in Leipzig, 1996
  • 3 Schwarzer R, Renner B. Risikoeinschätzung und Optimismus. In: Schwarzer R. Gesundheitspsychologie. Hogrefe, Göttingen 1997; 43-66
  • 4 Schultz-Zehden B. Frauengesundheit in und nach den Wechseljahren. Die 1 000-Frauen-Studie. Verlag Kempkes, Gladenbach 1998
  • 5 Becker M H, Maimann L A, Kirscht J P, Haefner D P, Drachman R H, Taylor D W. Neuere Untersuchungen zum „Health Belief Model”. In: Haynes RB, Taylor DW, Sackett DL (eds). Compliance Handbuch. Oldenbourg, München 1982; 94-131

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