Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2002; 12(3): 127-128
DOI: 10.1055/s-2002-32715
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Aktuelle Herausforderungen und Chancen der Rehabilitationsmedizin

Recent challenges and chances of rehabilitation medicineC.  Gutenbrunner, G.  Stucki, U.  C.  Smolenski
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Publication History

15. 4. 2002

18. 4. 2002

Publication Date:
08 July 2002 (online)

Es ist unbestritten, dass der Bedarf an Rehabilitation in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen hat und weiter zunehmen wird. Wesentliche Ursachen hierfür sind die epidemiologische Entwicklung mit der starken Zunahme der Lebenserwartung, aber auch die Fortschritte in der Akutmedizin, die zu einer Erhöhung der Überlebenswahrscheinlichkeit nach Unfällen und bei schweren Erkrankungen geführt haben. Allerdings häufig zum Preis bleibender Funktionsdefizite und Einschränkungen der Fähigkeit, am sozialen Leben teilzunehmen. Die kurativ ausgerichtete Medizin erfährt eine bedeutsame Erweiterung durch die Einbeziehung, Bewertung, Abwendung und Verminderung von Krankheitsfolgen und die Integration des Patienten in sein soziales Umfeld. Darüber hinaus hat sich das Verständnis von der Rehabilitation weiterentwickelt, weg von der Betrachtung von Einzelmaßnahmen, wie z. B. von stationären Heilverfahren, hin zur Betrachtungsweise geschlossener Rehabilitationsketten mit koordinierter Abfolge zahlreicher unterschiedlicher Einzelinterventionen.

In diesem Sinne ist auch die Rehabilitationsdefinition der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Physikalische Medizin und Rehabilitation zu interpretieren, in der sie als das „personenbezogene, multi- und interdisziplinäre Management von Beeinträchtigungen der funktionalen Gesundheit” beschrieben wird.

Auch die WHO hat mit der Verabschiedung der neuen Internationalen Klassifikation der Funktionen (ICF) durch die World Health Assembly im Mai 2001 eine außerordentlich wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Rehabilitationsmedizin in Klinik, Wissenschaft und Lehre geschaffen. Die Bedeutung der ICF und einige vorauszusehende Konsequenzen für die Rehabilitation werden in dem vorliegenden Heft dargestellt. Die Deutsche Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation und die Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften sind als Kooperationspartner eines Projektes des Lehrstuhls für Physikalische Medizin und Rehabilitation der Universität München und der WHO maßgeblich bei der Entwicklung von praktikablen ICF-Core-Sets für chronische Gesundheitsstörungen und für die Frührehabilitation beteiligt.

In der ICF wird zwischen Beeinträchtigungen der Körperstrukturen und -funktionen, der Aktivität des Menschen als handelndes Individuum und der Teilhabe des Menschen an der Gesellschaft in allen ihm wichtigen Lebensbereichen differenziert. Diese Komponenten werden zusammenfassend mit dem Begriff der funktionalen Gesundheit beschrieben. Auch werden die für die Rehabilitation entscheidenden Kontextfaktoren der Person und ihrer Umwelt nunmehr miteinbezogen. Demgemäß ist die funktionale Gesundheit nicht mehr nur als einfache Folge einer Gesundheitsstörung infolge von Krankheiten, Verletzungen, kongenitalen Leiden oder des Alterns zu verstehen. Vielmehr ist die funktionale Gesundheit eine eigenständige Größe, die zwar mit der Gesundheitsstörung, aber in hohem Maße auch mit den Kontextfaktoren der Person und der Umwelt in Zusammenhang steht. Die Bedeutung dieser assoziierten Faktoren kann je nach Situation allerdings sehr unterschiedlich sein.

Die ICF mit ihren Komponenten erlaubt auch die Darstellung der unterschiedlichen Perspektiven innerhalb der Rehabilitation. Aus Sicht der Frührehabilitation ist der Kontextfaktor akutmedizinische Versorgungsnotwendigkeit und aus Sicht der beruflichen Rehabilitation das berufliche Umfeld der entscheidende Faktor. In der Geriatrie oder der psychosomatischen Rehabilitation ist es die Person in Bezug auf Alter, Komorbidität oder Persönlichkeitsstörungen und ihr soziales Umfeld. In der Sichtweise der krankheitsspezifischen Rehabilitation, beispielsweise der neurologischen oder der Querschnittsrehabilitation, stellt die „Gesundheitsstörung” einen entscheidenden Faktor dar. Für alle Perspektiven aber gehört das Management der funktionalen Gesundheit unter Berücksichtigung aller assoziierter Faktoren, also der Gesundheitsstörung und der personen- und umweltbezogenen Kontextfaktoren zur Kernkompetenz. Mit der ICF wird auch deutlich, dass die zum Teil noch von Kostenträgern vertretene ausschließlich krankheitsspezifische Sichtweise der Rehabilitation mit Strukturierung von Rehabilitationsangeboten nach Gesundheitsstörungen nicht mehr zeitgemäß ist und durch ein umfassenderes Verständnis abgelöst werden muss. Es ist auch zu hoffen, dass die Vertreter der verschiedenen rehabilitativen Bereiche mit dem allgemein akzeptierten Konzept der ICF zu einem von den verschiedenen Perspektiven getragenen gemeinsamen Verständnis für die Rehabilitation kommen und sich künftig noch stärker an der gemeinsamen Kernkompetenz orientieren werden.

Voraussetzung, um die rehabilitative Kernkompetenz zu erwerben, ist eine qualifizierte ärztliche Weiter- und Fortbildung. Sie muss Erfahrungen und spezielles Wissen in allen wichtigen Bereichen der Rehabilitation, von der Frührehabilitation über die weiterführende stationäre Rehabilitation bis hin zu ambulanten Maßnahmen vermitteln. Darüber hinaus sind neben einer guten klinischen Weiterbildung spezielle Qualifikationen in der rehabilitativen Diagnostik (Assessments), der Indikationsstellung (Assignment) und der rehabilitativen Interventionen einschließlich der Physikalischen Medizin sowie der Evaluation und des Qualitätsmanagements notwendig. Dieses umfassende Wissen kann nur in einer eigenständigen Facharztweiterbildung im Gebiet der Physikalischen Medizin und Rehabilitation erfolgen. Ein aktuelles Konzept für die Weiterbildung wurde in enger Kooperation der Deutschen Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation mit dem Berufsverband der in Prävention, Physikalischer Medizin und Rehabilitation tätigen Ärzte und der Arbeitsgemeinschaft Physikalische Medizin und Rehabilitation erarbeitet. Sie wird in diesem Heft dokumentiert.

Die Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland hat der Entwicklung der Rehabilitation dadurch Rechnung getragen, dass sie in dem vom Bundestag verabschiedeten neunten Sozialgesetzbuch die „Selbstbestimmung und Teilhabe (behinderter Menschen) am Leben in der Gesellschaft” (§ 1; SGB IX) in das Zentrum notwendiger Sozialleistungen gerückt hat. In diesem Gesetz werden die medizinischen Leistungen der Rehabilitation gemeinsam mit den Maßnahmen zur Verbesserung der Teilhabe und anderen Leistungen behandelt.

Mit Inkrafttreten des SGB IX haben sich auch die Rahmenbedingungen der Frührehabilitation grundlegend geändert. In diesem Heft werden daher die gesetzlichen Grundlagen und die aktuelle Situation der indikationsübergreifenden Frührehabilitation, ein Konzept zu Strukturen und Abläufen in der Frührehabilitation und die Bedeutung der ICF für die Rehabilitation dargestellt. Im nächsten Heft dieser Zeitschrift werden die Situation in der Geriatrischen Rehabilitation und in der neurologischen Rehabilitation vorgestellt sowie aktuelle Aspekte der Finanzierung rehabilitativer Maßnahmen im Kontext des Fallpauschalengesetzes diskutiert.

Dem Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation wird eine wesentliche Rolle bei der flächendeckenden Umsetzung der Frührehabilitation zukommen. Es besteht heute Einigkeit darüber, dass eine erfolgreiche Rehabilitation nur bei Vorhandensein funktionierender interdisziplinärer und multiprofessioneller Teamstrukturen möglich ist. Ein solche Teamarbeit, die sowohl das Fachwissen verschiedener ärztlicher Disziplinen als auch das verschiedener therapeutischer und sozialer Berufsgruppen einbeziehen muss, bedarf einer fachgerechten Leitung, die, da dem Rehabilitationsbedarf stets ein medizinisches Problem primär zugrunde liegt, in der Regel von einem Arzt zu leisten ist.

In Form eines Weißbuches werden im Heft 4/02 auch aktuelle wissenschaftliche und berufspolitische Aspekte des Fachgebietes der Physikalischen Medizin und Rehabilitation sowie Anforderungen an die ärztliche Weiterbildung dargestellt und Perspektiven diskutiert.

Chr. Gutenbrunner

G. Stucki

U. C. Smolenski

Prof. Dr. med. Chr. Gutenbrunner

Institut für Balneologie und Medizinische Klimatologie · OE 8307 · Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

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