Krankenhauspsychiatrie 2002; 13(2): 45
DOI: 10.1055/s-2002-32112
Editorial
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ärztemangel

T.  R.  Payk1
  • 1
Further Information

Publication History

Publication Date:
07 June 2002 (online)

Derzeit fehlen in Deutschland etwa 2000 Klinikärzte bei weiter steigender Tendenz. Würde zudem das Urteil des europäischen Gerichtshofs von Oktober 2000, demzufolge die Bereitschaftsdienste voll auf die Arbeitszeit anzurechnen seien, umgesetzt, wären allein hierfür zusätzlich rund 20 000 neue Stellen erforderlich; zweifelsohne eine Utopie. Während bis in die 90er Jahre fast alle Medizinstudenten später in den Arztberuf gingen, verbleiben inzwischen nur noch rund etwa 60 %; die übrigen wechseln in die Industrie oder die Medizinjournalistik, zu Versicherungen oder Unternehmensberatungen.

Der ausbleibende Nachwuchs betrifft andere Medizinfächer nicht weniger als die Psychiatrie, obgleich sich hier wegen der besonders personenbezogenen Rolle des Arztes entsprechende Defizite schmerzhafter bemerkbar machen. In den etwa 330 bis 340 deutschen psychiatrischen Fachkrankenhäusern und Abteilungen sind teilweise bis zu 5 % der Arztstellen unbesetzt; der institutionellen Psychiatrie dürften derzeit etwa 300 Ärztinnen und Ärzte fehlen. Als vielseitig einsetzbar und erst recht in den Bereitschaftsdiensten unersetzlich, ist deren Mangel durch andere Berufsgruppen, etwa Psychologen, nicht zu kompensieren.

Besorgt oder gar erschreckt wird politisch und administrativ nach Erklärungen und Lösungen gesucht, häufig von „Experten”, die kaum je ein Krankenhaus von innen, geschweige denn eine psychiatrische Klinik kennengelernt haben. Man liest von Organisationsmängeln, Mobbing, Ausbeutung durch Vorgesetzte, verkrusteten Hierarchien, Chefarztwillkür. Nicht zu übersehen ist die Unterbezahlung der diagnostischen und therapeutischen Leistungen - in der Krankenhauspsychiatrie ebenso wie in der Praxispsychiatrie - gemessen an den hohen Anforderungen und Erwartungen an Ausbildung, Verantwortlichkeit und beruflichem Stress; dies gilt im übrigen auch für das Pflegepersonal.

Wer allerdings glaubt, allein durch finanzielle Anreize die Situation zum Besseren wenden zu können, greift zu kurz. Die abnehmende Neigung, sich für den Beruf des Arztes bzw. den des Psychiaters zu entscheiden, hat weitaus komplexere Ursachen. Sie ist im Ganzen zweifellos Ausdruck einer Neuorientierung vieler Jugendlicher, die befürchten, im Arztberuf ausgenutzt, bevormundet, gegängelt, über Gebühr kritisiert oder gar kriminalisiert zu werden. Entscheidungszwänge, stete Arbeitsverdichtung, Zeitdruck, ineffiziente Arbeitsorganisation, unberechenbarer Arbeitsanfall bei zunehmender Entfremdung von der eigentlichen Arzttätigkeit lassen eigenen Bedürfnissen nur wenig Raum und leisten Burnt-out-Gefühlen Vorschub. Soziales Engagement ist zudem vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entsolidarisierung unzeitgemäß.

Zusätzlich demotivierend wirkt die geringe Wertschätzung seitens einer Gesellschaft, deren Idole eher die Darsteller von Politik, Sport und Medien sind als die grauen Mäuse der pflegenden, helfenden, heilenden und sorgenden Professionen. Arbeit und Bildung sind indessen keine Events, die stets Spaß machen - obgleich die Entdeckung der „Humortherapie” solches vielleicht suggerieren könnte. Spätestens dann, wenn sich die Knoten aus Altruismus und Anteilnahme im psychosozialen Netzwerk lockern oder gar aufzulösen beginnen, wird sich allerdings die Spaßgesellschaft Gedanken über die zukünftige psychiatrische Versorgung vor allem derjenigen machen müssen, die dann in eben dieser Gesellschaft unter die Räder gekommen sind.

Prof. Dr. Dr. T. R. Payk

Zentrum für Psychiatrie · Ruhr-Universität

Alexandrinenstr. 1 - 3

44791 Bochum

    >