Rehabilitation (Stuttg) 2002; 41(2/3): 73-75
DOI: 10.1055/s-2002-28452
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Trendwende zur ambulanten Rehabilitation?

Trend Towards Outpatient RehabilitationU.  Koch
  • 1Abteilung für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
08 May 2002 (online)

Wenn das Rehabilitationssystem in Deutschland bezüglich seiner Stärken und Schwächen diskutiert wird, begegnet man regelhaft der Argumentation, dass in Deutschland zwar ein sehr gut ausgebautes und spezialisiertes stationäres Versorgungssystem vorgehalten wird, dass aber die ergänzende ambulante Rehabilitation fehlt. Dabei wird meist auf die Gestaltung der Rehabilitation in anderen westlichen Industriestaaten verwiesen, die rehabilitative Maßnahmen in erheblichem Umfang ambulant erbringen. Als Vorteile dieses Rehabilitationssettings werden zum einen die geringeren Kosten, zum anderen die bessere Umsetzbarkeit reintegrativer Zielsetzungen durch wohnortnahe Rehabilitation genannt. Der Gesetzgeber hat diese Argumentation in den letzten Jahren gezielt aufgegriffen und der ambulanten Rehabilitation in verschiedenen gesetzlichen Festlegungen eine stärkere Position zugeschrieben.

Seit Mitte der 90er Jahre ist auch bei den großen Rehabilitationsträgern eine größere Offenheit bezüglich der ambulanten Rehabilitation festzustellen. Die gesetzliche Rentenversicherung und die Krankenkassen haben dabei zunächst unterschiedliche Konzepte der ambulanten Rehabilitation verfolgt und realisiert, sind seit einigen Jahren aber in eine enge Kooperation getreten. Zu diesen kooperativen Aktivitäten gehörten die über die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) organisierten und im Jahre 2000 verabschiedeten Rahmenempfehlungen zur ambulanten medizinischen Rehabilitation wie auch die bereits 1996 gefällte Entscheidung, in ausgewählten Indikationsbereichen gemeinsam ambulante Modelle zu erproben und zu evaluieren.

Die beiden großen in diesem Kontext durchgeführten Modellversuche beziehen sich auf die Indikationsbereiche Orthopädie und Kardiologie und wurden vor wenigen Monaten abgeschlossen. Deren Ergebnisse wie die weiterer, meist regional begrenzter ambulanter Modelle sowohl im Bereich der Orthopädie und Kardiologie wie auch in anderen Indikationsbereichen (Neurologie, Psychosomatik, Sucht u. a.) werden in diesem Schwerpunktheft berichtet. Sie belegen insgesamt, dass eine ambulante Rehabilitation unter bestimmten Bedingungen vergleichbare Behandlungseffekte wie die stationäre Rehabilitation erbringt.

Nachdem die Wirksamkeit ambulanter Rehabilitation (ganzheitlicher-interdisziplinärer Ansatz) damit kaum noch angezweifelt werden kann und sich die Rentenversicherung und Krankenkassen über die gemeinsame Rahmenempfehlung, Anforderungsprofil an die Einrichtungen, Behandlungskonzepte und Voraussetzungen bei Patienten indikationsübergreifend wie indikationsspezifisch verständigt haben, sind wichtige Voraussetzungen für eine breite Umsetzung von ambulanter Rehabilitation gegeben. Ob es nun tatsächlich zu einer schnellen Veränderung der rehabilitativen Versorgungsstruktur kommt, ist offen. Auch ist nicht damit zu rechnen, dass die in den letzten Jahren intensiv geführte Diskussion um die Ausgestaltung der ambulanten Rehabilitation damit beendet ist. In den Rahmenempfehlungen haben sich die Kostenträger unter Zugrundelegung eines umfassenden Rehabilitationsverständnisses und der als erforderlich erachteten Qualitätsstandards auf ein stark am stationären Behandlungskonzept orientiertes ambulantes Rehabilitationsmodell festgelegt. Vorgesehen ist in diesem Konzept eine maßnahmenintensive (mindestens sechs Stunden pro Tag umfassende), interdisziplinäre und in der Regel in einem engen Zeitintervall zu erbringende Behandlung. Mit dem Konzept wird der Forderung Rechnung getragen, dass ambulante Rehabilitation nicht eine Rehabilitation „zweiter Klasse” sein darf. Es ist allerdings zu fragen, ob tatsächlich für alle Gruppen von Rehabilitanden ein Bedarf für eine so umfassende Rehabilitation besteht oder ob nicht bei Teilgruppen auch ein Behandlungsansatz erfolgreich und angemessen wäre, der bezüglich Art und Umfang der Maßnahmen weniger aufwendig ist. Anzumerken ist auch, dass der in den Rahmenempfehlungen gewählte Begriff „ambulante Rehabilitation” international nicht so eng verwendet wird, sondern eine Variante aus einer größeren Vielfalt ambulanter Rehabilitationsangebote darstellt.

Eine andere kritische Frage betrifft die Verfügbarkeit entsprechender ambulanter Behandlungseinrichtungen. Die ambulante Rehabilitation beruhte - abgesehen von Einrichtungen der Unfallversicherung - bis 2001 im Wesentlichen auf zwei Säulen. Im Rahmen der Rehabilitation der Rentenversicherung stand ein begrenztes Kontingent von ambulanten Behandlungseinrichtungen, meist in enger Anbindung an stationäre Rehabilitationseinrichtungen, zur Verfügung, das inzwischen schrittweise erweitert wurde. Die gesetzlichen Krankenkassen nutzten seit Mitte der 90er Jahre ein vergleichsweise dichtes Netz von ca. 250 Behandlungseinrichtungen zur Durchführung von ambulanten, traumatologischen Rehabilitationsmaßnahmen (AOTR). Das AOTR-Konzept wurde in der Vergangenheit mehrfach als zu wenig dem Konzept einer umfassenden Rehabilitation entsprechend kritisiert. Mit Inkrafttreten der BAR-Rahmenempfehlung wurden die Verträge mit den AOTR-Einrichtungen von den Krankenkassen gekündigt. Diese Einrichtungen können sich allerdings jetzt mit erweiterten Konzepten und einer erweiterten Ausstattung erneut um die Zulassung als ambulante Rehabilitationseinrichtung bewerben. Da es bezüglich der Anerkennung und Belegung durch die Kostenträger keine bundesweit einheitlichen und klar operationalisierten Prozeduren gibt, ist hier noch mit erheblichen Auseinandersetzungen zu rechnen. Selbst wenn diese Probleme nach einer Übergangsphase geregelt sein dürften und eine größere Zahl von ambulanten Einrichtungen zur Verfügung steht, bleibt die Frage, wie die ambulante rehabilitative Versorgung außerhalb der Ballungsgebiete sichergestellt werden kann.

Welche Erfordernisse für die Weiterentwicklung der Rehabilitation werden für die nahe und fernere Zukunft gesehen? Kurzfristig ist es wichtig, Qualitätssicherung in der ambulanten Rehabilitation mit vergleichbarer Intensität wie für die stationäre Rehabilitation auf den Weg zu bringen. Vorliegende Informationen sprechen dafür, dass dieses Vorhaben gelingen wird. Renten- und Krankenversicherung haben klar ihre Absicht bekundet, in dieser Frage gemeinsam zu handeln. In längerfristiger Perspektive ist zu hoffen, dass sich weitere Angebotsformen in der ambulanten Rehabilitation entwickeln. Ziel sollte es letztlich sein, dass auch Deutschland über ein Spektrum stationärer wie ambulanter rehabilitativer Angebote verfügt, das eine differentielle Zuweisung unter dem Gesichtspunkt des größten Nutzens für den Patienten ermöglicht und gleichzeitig das Mitentscheidungsrecht des Patienten wahrt, sich für die Form der Rehabilitation zu entscheiden, die er selbst für die angemessenste hält. Bei der bisherigen Diskussion der Vorteile der ambulanten Rehabilitation hat die Frage der kostengünstigeren Erbringung der Leistungen eine zentrale Rolle gespielt. Ob jedoch durch das zuvor skizzierte Angebotsspektrum wirklich substantiell Kosten eingespart werden können, ist offen. Bisher werden, wie die Evalutationsergebnisse der Modellversuche zeigen, in den zur Zeit betriebenen Zentren der ambulanten Rehabilitation die eingangs mit diesem Setting verbundenen konzeptionellen Vorteile der Wohnortnähe noch nicht konsequent genug umgesetzt. Auch hier besteht ein weiterer Optimierungsbedarf.

Die Zeitschrift „Die Rehabilitation” legt hiermit innerhalb von drei Jahren erneut ein Schwerpunktheft zur Thematik „Ambulante Rehabilitation” (vgl. Supplement 1, 1999) vor, das zudem noch als Doppelheft konzipiert ist. Dies kann als Beleg dafür gewertet werden, wie rapide die Anzahl empirischer Beiträge in diesem Themenbereich zugenommen hat.

Im einleitenden Teil geben zunächst B. Maier-Riehle und F. Schliehe einen Überblick über die Entwicklung der ambulanten Rehabilitation in den letzten Jahren. Dabei gehen sie auf gesetzliche Neuerungen, die Weiterentwicklungen von Konzepten einschließlich der BAR-Rahmenempfehlungen und auf die Entwicklung der entsprechenden Angebotssysteme im Rahmen der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung ein. Die Einführung in das Schwerpunktheft wird ergänzt durch einen Bericht (U. Koch, W. Kluth, A. Mehnert) über das im Dezember 2001 in Hamburg durchgeführte Symposium „Perspektiven für die ambulante Rehabilitation in Deutschland”, in dem ausgewählte Modellversuche zur ambulanten Rehabilitation in Deutschland und internationale Erfahrungen und Vorhaben in der Gestaltung ambulanter wie stationärer Rehabilitation vorgestellt und diskutiert wurden.

Den inhaltlichen Schwerpunkt des Heftes stellen sieben Beiträge zu den beiden großen Modellversuchen zur ambulanten Rehabilitation im Bereich der Orthopädie und Kardiologie dar. Die methodisch vergleichbar angelegten Projekte wurden von der Arbeitsgruppe Rehabilitationsforschung an der Abteilung Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (Orthopädie) und von der Arbeitsgruppe Sozialepidemiologie und Gesundheitssystemgestaltung der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld (Kardiologie) durchgeführt. Sie wurden gemeinsam von der Rentenversicherung und den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen finanziert und organisatorisch unterstützt.

Der Beitrag von H. G. Haaf, F. Schliehe, B. Badura, W. Bürger, U. Koch, und T. Schott beschreibt und begründet die konzeptionellen, methodischen und organisatorischen Gemeinsamkeiten der beiden Modellversuche.

Die drei nachfolgenden Arbeiten beziehen sich auf das ambulante orthopädische Modell. So wird im ersten Beitrag ein Überblick über die Ergebnisse der vergleichenden Evaluation (ambulant vs. stationär) auf den verschiedenen Outcome-Ebenen gegeben (W. Bürger, S. Dietsche, M. Morfeld, U. Koch). Es folgt eine vergleichende Analyse der Struktur- und Prozessqualität der beiden Versorgungsformen (S. Dietsche, W. Bürger, M. Morfeld, U. Koch). Der dritte Ergebnisbeitrag berichtet die subjektiven Bewertungen einzelner Behandlungsangebote in der stationären und ambulanten orthopädischen Rehabilitation und die Beurteilung der beiden Settings (M. Morfeld, W. Bürger, S. Dietsche, U. Koch).

Auch die Ergebnisse des Modellversuchs zur ambulanten kardiologischen Rehabilitation werden in drei Beiträgen präsentiert. So wird zunächst wieder ein Überblick über die vergleichenden Evaluationsergebnisse auf den verschiedenen Messebenen und der Kosten-Wirksamkeits-Relation gegeben (A. vom Orde, T. Schott, O. Iseringhausen). Es folgen zwei Vertiefungsbeiträge aus dem Modellvorhaben. Eine vergleichende Beschreibung der Gestaltung der organisatorischen Prozesse in der ambulanten und stationären kardiologischen Rehabilitation leistet der Beitrag von O. Iseringhausen, T. Schott und A. vom Orde. Es schließt sich ein Beitrag an, der die Aspekte Kontinuität und Vernetzung als zentrale Kennwerte der Prozessqualität in der kardiologischen Rehabilitation in den Mittelpunkt stellt (T. Schott, O. Iseringhausen, A. vom Orde).

Im nachfolgenden Abschnitt des Schwerpunkthefts werden weitere acht Arbeiten zu aktuellen Ergebnissen von Modellversuchen und Studien im Bereich der ambulanten Rehabilitation aus verschiedenen Indikationsbereichen berichtet.

Die ersten beiden Beiträge beziehen sich erneut auf den Bereich der ambulanten orthopädischen Rehabilitation. So berichten B. Bührlen und W. H. Jäckel aus einer vergleichenden Evaluation eines regional durchgeführten und von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinland-Pfalz finanzierten Modells. Der Schwerpunkt der Ergebnisdarstellung liegt auf der Analyse der erbrachten rehabilitativen Leistungen, des Outcomes und der Kosten. Der Beitrag von W. Mau, S. Merkesdal, T. Busche und J. Bauer stellt einen Ausschnitt aus der Evaluation des orthopädisch ambulanten Modells des Gesundheitszentrums Hannover dar. Im Rahmen einer Rehasetting-vergleichenden prospektiven Studie wird der Versuch unternommen, den sozialmedizinischen Verlauf vorherzusagen.

M. Karoff, W. Müller-Fahrnow, J. Kittel, H.O. Vetter, H. Gülker und C. Spyra beschreiben in ihrem Beitrag ein in der kardiologischen Rehabilitationsklinik Königsfeld der LVA Westfalen realisiertes Konzept der Zuweisungssteuerung zur stationären oder ambulanten Rehabilitation. Die Versicherten formulieren ihre Präferenz für das jeweilige Rehabilitationssetting nach Aufnahme in die Klinik. Die Untersuchung fokussiert das Entscheidungsverhalten und vergleicht die beiden Patientengruppen.

Die nachfolgenden zwei Beiträge berücksichtigen mit der Neurologie einen weiteren wichtigen Indikationsbereich der ambulanten Rehabilitation. F. Bölsche, U. Hasenbein, H. Reißberg, W. Lotz-Rambaldi und C. Wallesch stellen Kurzzeitergebnisse einer vergleichenden Evaluation von Rehabilitationspatienten der Phase D nach Schlaganfall dar. P. W. Schönle berichtet Ergebnisse einer settingvergleichenden katamnestischen Untersuchung bei Patienten der neurologischen Rehabilitation und fokussiert dabei besonders auf die Zielgröße „Verbesserungen bezüglich der Einschränkungen von Alltagsfähigkeiten”.

Die beiden anschließenden Beiträge beziehen sich auf rehabilitative Indikationsbereiche, in denen bisher deutlich weniger ambulante Modelle realisiert wurden als in den Bereichen Orthopädie, Kardiologie und Neurologie. So berichten H. Rüddel, R. Jürgensen, G. Terporten und E. Mans über Behandlungsergebnisse eines Vergleichs von stationär bzw. ambulant (tagesklinisch) sowie einer Gruppe von zunächst stationär und dann ambulant weiterbehandelten Patienten der psychosomatischen Rehabilitation. W. Lotz-Rambaldi, H. Buhk, W. Busche, J. Fischer, U. Bloemeke und U. Koch vergleichen in ihrem Beitrag im Rahmen einer retrospektiven Befragung tagesklinisch oder stationär behandelte Patienten mit Alkoholabhängigkeit bezüglich ihrer Ausgangssituation, Wahrnehmung der Therapiemaßnahmen und Behandlungsergebnisse.

H. E. Klingelhöfer und A. Lätzsch berichten im abschließenden Beitrag die Ergebnisse eines Forschungsvorhabens, das in Kooperation mit der LVA Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt wurde. Hier werden in einem randomisierten Forschungsansatz die Vergleichbarkeit des Rehabilitationserfolgs (Arbeitsfähigkeit) unter den beiden Settingbedingungen geprüft und aus gesundheitsökonomischer Perspektive Kostenvergleiche vorgenommen.

Prof. Dr. Dr. Uwe Koch

Martinistraße 52 - Pav. 69

20246 Hamburg

Email: koch@uke.uni-hamburg.de

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