Laryngorhinootologie 2002; 81(S1): 61-80
DOI: 10.1055/s-2002-25047
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Tissue Engineering in der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie

M.  Bücheler1
  • 1Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde · Plastische Operationen · Universität Leipzig (Direktor: Prof. Dr. med. F. Bootz)
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12 April 2002 (online)

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1 Einleitung

Der Ersatz oder die Wiederherstellung von Zell-, Gewebe- und Organfunktionen gehört zu den bedeutendsten Herausforderungen der modernen Medizin. Durch neue Therapieverfahren, wie die Organtransplantation oder die Versorgung mit Implantaten, kann heute für viele Patienten eine Verbesserung der Lebensqualität und oft auch die Verlängerung des Lebensalters erreicht werden.

Tab. 1 Nachteile von Implantaten (zusammengefasst nach 11) potenzielle Gewebeunverträglichkeit (auch nach Jahren!) Wandern im Organismus Degradation und Verschlechterung der mechanischen Eigenschaften hohe Entwicklungs- und Folgekosten

Trotz der Fortschritte in der Transplantationsmedizin gefährdet vor allem der Mangel an geeigneten Spenderorganen das Überleben von Patienten mit terminalem Organversagen . Beispielsweise warteten Mitte der 90er-Jahre europaweit etwa 39 000 Menschen auf eine Niere, in Deutschland allein über 9500 Patienten [109] [163]. In dieser Zeit sind kostenintensive Ersatztherapien, wie zum Beispiel die Dialyse bei Niereninsuffizienz, erforderlich. Darüber hinaus ist bisher nach einer Organtransplantation eine lebenslange Immunsuppression, deren Komplikationen schwer therapierbare Infektionen oder sogar die Entstehung maligner Tumore sein können, unumgänglich. Nicht selten treten trotz moderner Immunsupressiva Abstoßungsreaktionen auf [51].

Implantate erreichen bisher nicht die Qualität, Langlebigkeit oder Funktionalität natürlicher Körperteile. Sie sind Fremdkörper im Organismus, so dass materialspezifische Kompatibilitätsprobleme den klinischen Einsatz eines Implantats beeinträchtigen können (Tab. [1]). Das Einbringen eines Implantates in einen Organismus löst immer eine Gewebereaktion aus. Idealerweise unterscheidet sie sich kaum von den Abläufen bei der normalen Wundheilung. Bei ungünstigem Verlauf kann sich eine derbe Bindegewebskapsel um das Implantat ausbilden oder eine chronische Entzündung entstehen [11]. Ein eventueller Implantatverlust mit der nachfolgenden Notwendigkeit weiterer rekonstruktiver Maßnahmen wäre die Folge.

Tab. 2 Entwicklungsstand des Tissue Engineering aufgeschlüsselt nach Geweben (modifiziert und erweitert nach 112) Zielorgan/Zielgewebe Verwendete(r) Zelltyp(en) Geplante bzw. erfolgte klinische Anwendung Entwicklungsstand neuronale GewebeGehirn neuronale Stammzellen Zelltransplantation klinische Studien Herz Herzklappe KardiomyozytenStromazellenEndothelzellenMyofibroblasten Zelltransplantation Prothese, biologische Matrix Forschung klinische Studien Gefäße EndothelzellenMyofibroblasten Prothese, biologische Matrix vorklinische Studien LungeTrachea Pneumozytenrespiratorisches Epithel, Chondrozyten Zelltransplantation, Prothese Forschung Leber Hepatozyten ÜberbrückungssystemeZelltransplantation klinische StudienForschung Pankreas Inselzellen Zelltransplantation Forschung Darm Enterozyten Prothese, Zelltransplantation Forschung Niere Mesangiumzellen Zelltransplantation Forschung HarnblaseHarnleiter Urothelzellen Prothese, biologische Matrix präklinische Studien Haut Keratinozyten Zell- und Gewebetransplantation Klinik Knorpel Chondrozyten Zelltransplantation, Prothese Klinik Knochen Osteoblasten Zelltransplantation, Prothese präklinische Studien

Als Alternative zum humanen Transplantat wird heute auch auf tierische Zellen, Gewebe und Organe, z. B. porcine Hepatozyten in Überbrückungssystemen für den Leberersatz, zurückgegriffen [32] [57] [82]. Die Xenotransplantation als speziesübergreifende Verpflanzung von Zellen, Geweben und Organen stellt derzeit jedoch keine Alternative für den Ersatz humaner Gewebe dar. Sie beinhaltet nicht abschätzbare Risiken wie z. B. die Übertragung porciner endogener Retroviren (PERV) bei der Verwendung von Schweinetransplantaten. Wie jedes andere Retrovirus können auch PERV Gene in das Erbgut ihres Wirtes einschleusen und so den menschlichen Organismus in bisher nicht bekannter Art und Weise schädigen [113].

Das ideale Ersatzgewebe stammt aufgrund seiner immunologischen Unbedenklichkeit vom Patienten selbst. Es steht jedoch nur begrenzt zur Verfügung und reicht in der Regel nicht aus größere Defekte, wie z. B. ausgedehnte Knochendefekte (Abb. [1]), zu verschließen.

Abb. 1 3 D-Darstellung eines knöchernen Defektes nach Resektion eines malignen Schwannoms der Frontobasis basierend auf den 2 D-Schichtdaten des Spiral-CT.

Die Vermehrung des patienteneigenen Gewebes bis zum Erreichen der therapeutisch benötigten Menge und Qualität würde die Lösung dieses Problems darstellen. Seit Jahrzehnten haben Forscher daran gearbeitet, humane Zellen und Gewebe außerhalb des menschlichen Organismus zu kultivieren und zu vermehren [44]. Ljuggren gelang es Anfang des vergangenen Jahrhunderts erstmals humane Hautstücke über mehrere Wochen in physiologischem Medium am Leben zu erhalten und zu replantieren. Das Auswachsen von Zellen aus Gewebeexplantaten in vitro wurde in den 60er-Jahren als möglicher Ansatz für die Gewebezüchtung verfolgt. Eine wesentliche Vergrößerung der Gewebeoberfläche ließ sich aber nicht erreichen [162]. Erst Verbesserungen der Zellkulturtechniken ermöglichten die Vermehrung von Hautzellen über mehrere Generationen hinweg. Rheinwald und Green beschrieben 1975 die erfolgreiche Züchtung von Hautzellen als mehrschichtige ausdifferenzierte Zellklone, die über 20 bis 50 Generationen kultiviert werden konnten [147]. Diese Fortschritte führten Anfang der 80er-Jahre zur ersten therapeutischen Anwendung in vitro hergestellter Hauttransplantate bei Schwerbrandverletzten [8] [31]. Seitdem werden Verbrennungspatienten weltweit mit in vitro hergestellten Hauttransplantaten behandelt und überleben erst dadurch ihre lebensbedrohlichen Verbrennungen [43] [144].

Definition Tissue Engineering ist die Verbindung im Labor erzeugter Gewebe, Zellen und Moleküle mit einem oder verschiedenen Biomaterialien um einen Defekt oder einen Funktionsverlust in einem Organismus auszugleichen [98].

Seit Mitte der 80er-Jahre ist Tissue Engineering ein eigenständiges Forschungsgebiet, in dem Kliniker, Zellbiologen und Werkstoffwissenschaftler interdisziplinär zusammenarbeiten. Die aktuellen Konzepte zur Herstellung bioartifizieller Gewebe in vitro sind ausgesprochen vielfältig. In der Regel sind proliferationsfähige humane Zellen erforderlich, die nach Isolierung durch geeignete Zellkulturtechniken vermehrt werden, bis eine ausreichende Zellzahl für die Besiedlung einer Matrixstruktur vorhanden ist. Diese Trägermaterialien werden überwiegend als poröse Netzwerke oder Schwämme aus Kollagen, Fibrin oder anderen Bestandteilen der natürlichen extrazellulären Matrix (EZM) hergestellt. Aber auch Kunststoffe wie zum Beispiel PTFE (Polytetrafluorethylen) oder PET (Polyethylenterephthalat) finden Anwendung bei der Herstellung von Zell- und Gewebeträgern [187]. Bei den meisten Tissue-Engineering-Konzepten wird die Resorption des Trägermaterials durch die Zellen und deren Stoffwechselprodukte angestrebt, um langfristig die bei Implantaten auftretenden Nachteile zu vermeiden (siehe Tab. [1]).

In vielen medizinischen Fachdisziplinen werden die Methoden des Tissue Engineering zur Entwicklung künstlicher Ersatzgewebe eingesetzt. Die Entwicklungsstadien reichen von der Grundlagenforschung (z. B. Pankreas) über vorklinische Studien (z. B. Herzklappen) bis hin zum klinischen Einsatz (z. B. Haut und Knorpel) (Tab. [2]). In der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie besteht trotz einer Vielzahl etablierter Gewebeersatzverfahren die Notwendigkeit neue Konzepte basierend auf den Methoden des Tissue Engineering zu entwickeln. Einen schematischen Überblick über die Indikationen im Kopf- und Halsbereich gibt Abb. [2].

Tab. 3 Ablauf der Proliferation und Differenzierung als Voraussetzung für das Tissue Engineering funktionsfähiger Gewebe in 3 Schritten (nach Minuth) 1. SchrittZellvermehrung 2. SchrittEinleitung der Zelldifferenzierung 3. SchrittAufrechterhaltung der Zelldifferenzierung Mitose schnell reduziert Postmitose Differenzierung niedrig beginnend spezifisch Materialien und Methoden Bewuchsfläche der Kulturgefäße, serumhaltige Medien, Wachstumsfaktoren Trägermaterialien, gewebespezifische Matrix, serumfreie Medien konstante Ernährung, Kontrolle autolytischer Prozesse, Abtransport schädlicher Stoffwechselprodukte

Abb. 2 Schematische Darstellung der Indikationen für Tissue Engineering in der HNO-Heilkunde, Kopf-Halschirurgie. Binde- und Stützgewebe sind blau, Epithelgewebe rot dargestellt.

11 Literatur

Dr. med. Markus Bücheler

Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde · Plastische Operationen · Universität Leipzig

Liebigstraße 18 a · 04103 Leipzig

Email: buechm@medizin.uni-leipzig.de