Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2002; 37(3): 123-124
DOI: 10.1055/s-2002-21803
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sicherheit in der Anästhesie - gibt es neue Konzepte für Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen?

Safety in Anaesthesia - are there new Concepts for Patients with Neuromuscular Diseases?F.  Wappler, J.  Schulte am Esch
  • 1Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
12 March 2002 (online)

Die Anästhesie bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen (NME) stellt unverändert große Herausforderungen an den klinisch tätigen Anästhesisten. Ursächlich hierfür sind einerseits die erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Anästhetika, andererseits weisen Patienten mit bestimmten NME eine deutlich erhöhte Inzidenz zusätzlicher anästhesierelevanter Risikofaktoren auf. So besteht beispielsweise bei der Muskeldystrophie Duchenne nicht nur eine Schwäche der Skelettmuskulatur, sondern auch das Myokard ist vom hereditären Dystrophin-Mangel betroffen. Dieser führt konsekutiv zu Myokardverdickungen mit Wandbewegungsstörungen, einer dilatativen Kardiomyopathie mit sekundärer Klappeninsuffizienz und im Endstadium zum Herzversagen. Exemplarisch seien hier die Ergebnisse einer Untersuchung an 81 Knaben mit Muskeldystrophie Duchenne, die sich elektiven orthopädischen Eingriffen unterzogen, dargestellt [1]. Bei 83 % der Fälle zeigte sich präoperativ ein pathologisches EKG, bei 26 % der Jungen fanden sich Zeichen der Herzinsuffizienz in der Echokardiographie, weiterhin wurden in bis zu 73 % der Fälle präoperativ schwere pulmonale Störungen festgestellt. Trotz einer Anästhesieführung ohne Verwendung von Triggersubstanzen der malignen Hyperthermie (MH) kam es bei 26 % zu ernsthaften perioperativen Komplikationen, die kardial und/oder pulmonal bedingt waren. Diese Resultate veranschaulichen zum einen die Notwendigkeit einer umfassenden präoperativen Diagnostik. Darüber hinaus ist die Inzidenz von perioperativen Komplikationen signifikant erhöht, und es stellt sich die Frage, ob durch alternative anästhesiologische Konzepte die Sicherheit für NME-Patienten gesteigert werden kann [2] [3].

Voraussetzung zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst die genaue Kenntnis der Pathophysiologie der Erkrankung sowie aller relevanten krankheits-assoziierten Störungen. In zwei Übersichten vermitteln Baur et al. die allgemeinen pathophysiologischen Aspekte neuromuskulärer Erkrankungen, und stellen die speziellen Krankheitsbilder dar [2] [3]. Neben der Optimierung der präoperativen Diagnostik und Therapie, bietet demnach die Anwendung moderner anästhesiologischer Konzepte eine verbesserte Sicherheit für Patienten mit NME. Beispielhaft sollen hier zwei Punkte herausgegriffen werden: die Verwendung neuer, kurzwirksamer Anästhetika sowie ein adäquates Monitoring, das neben den üblichen Maßnahmen auch die verbesserte Überwachung der myokardialen Funktion gewährleistet.

Patienten mit neuromuskulären Störungen reagieren auf die Applikation von Anästhetika mit im Einzelfall dramatisch verlängerten Wirkzeiten. So konnte nachgewiesen werden, dass die neuromuskuläre Erholung bei Patienten mit Muskeldystrophie Duchenne trotz einer reduzierten Dosierung von Vecuronium im Vergleich zu Kontrollpatienten um das Sechsfache verlängert war [4]. Mit der Einführung kurzwirksamer Anästhetika, wie Mivacurium oder Remifentanil, ergibt sich heutzutage die Möglichkeit die Anästhesietiefe und -dauer besser zu steuern. Es liegen mittlerweile mehrere Berichte über den Einsatz von Mivacurium bei Patienten mit Muskeldystrophien vor [5] [6]. In einer Studie an Patienten mit Muskeldystrophie Duchenne beobachteten die Untersucher, dass Patienten mit einer noch geringen Muskelschwäche einerseits verlängerte Wirkzeiten nach Mivacurium hatten, andererseits war die Erhaltungsdosis im Vergleich zu Kindern mit normaler neuromuskulärer Funktion verringert [6]. Kinder, die aufgrund der Progression der Erkrankung auf einen Rollstuhl angewiesen waren, zeigten hingegen keine Veränderungen der neuromuskulären Antwort. Die Ursache für diese Unterschiede ist bislang nicht geklärt, übereinstimmend mit anderen Berichten [5] [7] ergeben sich jedoch eindeutige Hinweise dafür, dass die neuromuskuläre Blockade mit Mivacurium Vorteile gegenüber anderen Relaxantien bei NME-Patienten aufweisen kann. Auch die Anästhesie mit Propofol, in Kombination mit Remifentanil [7] als auch mit Fentanyl [8], stellt ein sicheres Verfahren bei diesem Patientenkollektiv dar. Hierbei erscheint die Wahl von Remifentanil aufgrund der ultrakurzen kontextsensitiven Halbwertszeit und dem damit verbundenen geringeren Risiko der postoperativen Atemdepression besonders vorteilhaft.

Zahlreiche neuromuskuläre Erkrankungen sind mit einer erhöhten Inzidenz kardialer Begleiterkrankungen assoziiert. Diese reichen von klinisch inapparenten Rhythmusstörungen bis hin zu manifesten Cardiomyopathien. Neben der Verwendung von Anästhetika mit verbesserten Wirkprofilen stellt der perioperative Einsatz der transösophagealen Echokardiographie (TEE), insbesondere bei längeren Eingriffen mit großen Volumenverschiebungen, ein Konzept zur Optimierung der Anästhesiesicherheit bei Patienten mit erhöhtem kardialen Risikoprofil dar. Moderne Sondensysteme bieten darüber hinaus die Möglichkeit, auch pädiatrische Patienten mit der TEE zu überwachen. In Kliniken, die über keine TEE verfügen, kann alternativ eine HZV-Messung mit der Pulskonturanalyse durchgeführt werden. Der Nachteil dieser Technik besteht jedoch in der fehlenden direkten Darstellung der myokardialen Funktion, die eine sensitivere Überwachung systolischer und diastolischer Parameter möglich macht. Allerdings liegen bisher für beide Methoden noch keine Studienergebnisse bezüglich der Anwendung bei dieser Patientengruppe vor.

Patienten mit bestimmten NME, wie z. B. der Central Core Disease, tragen aufgrund der engen genetischen Kopplung ein erhöhtes Risiko für eine Disposition zur MH [9]. Aber auch bei Patienten mit Muskeldystrophie Duchenne oder Myotonia congenita wurden MH-Reaktionen nach Gabe von volatilen Inhalationsanästhetika und/oder Succinylcholin beschrieben [10]. Unklar ist jedoch bislang, ob die erhöhte Sensitivität gegenüber Triggersubstanzen in diesen Fällen, wie bei der genetisch determinierten MH, über einen funktionellen Defekt am Ca2+-Freisetzungskanal am sarkoplasmatischen Retikulum der Skelettmuskelzelle oder über andere Pathomechanismen vermittelt wird.

Ein ebenfalls ungelöstes Problem stellt die Frage dar, ob Patienten mit einer nachgewiesenen MH-Disposition auch gegenüber anderen Substanzen als den bekannten MH-Triggern, eine erhöhte Gefährdung aufweisen mit einer MH-Krise zu reagieren. Zahlreiche Pharmaka können anästhesieunabhängig zu Rhabdomyolysen führen. Darüber hinaus wurde nach Gabe bzw. Intoxikation mit bestimmten Substanzen, wie z. B. Konservierungsstoffe oder Kokain, neben einer Rhabdomyolyse über MH-ähnliche Episoden mit Muskelrigor, Hyperthermie und Herz-Kreislauf-Störungen berichtet. Weißhorn et al. konnten nun erstmals zeigen, dass Kokain unter In-vitro-Bedingungen keine Kontrakturen am isolierten Skelettmuskelpräparat von MH-disponierten Patienten auslöst [11]. Daraus lässt sich folgern, dass die klinische Symptomatik bei Kokainintoxikation keine Assoziation zur MH hat, sondern anderen, vermutlich zentralen Mechanismen folgt.

Obwohl sich das In-vitro-Kontrakturtestverfahren als standardisiertes Verfahren zur Untersuchung von Pharmaka an Muskelpräparaten bewährt hat, ist ein entscheidender Nachteil der Methodik, dass den Patienten hierfür mit einer offenen Biopsie Muskelmaterial entnommen werden muss. Es wäre daher von großer Bedeutung ein Verfahren zu entwickeln, mit dem ebenfalls eindeutige Aussagen zu Pharmakawirkungen getroffen werden können und das eine geringere Invasivität aufweist. Einen Schritt in diese Richtung hat eine Baseler Untersuchergruppe an Zellkulturen entwickelt [12]. An den Zellkulturen wurden zunächst die intrazellulären Ca2+-Konzentrationen in Ruhe bestimmt und im nächsten Schritt wurden die Zellen mit Halothan exponiert. Die Autoren konnten dabei nachweisen, dass die Ca2+-Konzentrationen in Ruhe zwischen MH-disponierten und MH-normalen Zellen vergleichbar waren, unter Halothanzufuhr jedoch bei MH-disponierten im Gegensatz zu den Kontrollzellen signifikant anstiegen. Diese Experimente zeigen erstmals eine Alternative zum etablierten In-vitro-Kontrakturtestverfahren auf. Allerdings ist diese Methodik bislang nur an wenigen Patienten erprobt worden, ist höchst aufwändig und noch nicht standardisiert.

Die Anästhesie bei Patienten mit NME kann durch die Verwendung moderner Anästhetika sowie eines erweiterten Monitorings sicherer gestaltet werden. In systematischen Untersuchungen müssen darüber hinaus die pharmakologischen Wirkungen von Anästhetika und anderen Substanzen mit fraglicher MH-Triggerpotenz an humanen Skelettmuskelpräparaten mit dem Ziel getestet werden, die Pharmakotherapie bei MH-disponierten Patienten zu optimieren. Gegenstand zukünftiger Studien ist dabei die Etablierung alternativer Methoden zur sicheren und möglichst nicht-invasiven MH-Diagnostik.

Literatur

  • 1 Wollinsky K H, Weiß C, Gelowicz-Maurer M, Geiger P, Mehrkens H H, Naumann T. Präoperative Risikoerfassung bei Kindern mit Muskeldystrophie Typ Duchenne und ihre Relevanz für die Anästhesie sowie den intra- und postoperativen Verlauf.  Med Klinik. 1996;  91 34-37
  • 2 Baur C P, Schara U, Schlecht R, Georgieff M, Lehmann-Horn F. Anästhesie bei neuromuskulären Erkrankungen. Teil 1: Einführung.  AINS. 2002;  37 77-84
  • 3 Baur C P, Schara U, Schlecht R, Georgieff M, Lehmann-Horn F. Anästhesie bei neuromuskulären Erkrankungen. Teil 2: Spezielle Krankheitsbilder.  AINS. 2002;  37 125-137
  • 4 Ririe D G, Shapiro F, Sethna N F. The response of patients with Duchenne¿s muscular dystrophy to neuromuscular blockade with vecuronium.  Anesthesiology. 1998;  88 351-354
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  • 6 Tobias J D, Atwood R. Mivacurium in children with Duchenne muscular dystrophy.  Paediatr Anaesth. 1994;  4 57-60
  • 7 Hofer C, Zalunardo M P, Zollinger A. Total intravenous anaesthesia in a patient with familial hypokalaemic periodic paralysis.  Anaesthesia. 2001;  56 1082-1085
  • 8 Bennun M, Goldstein B, Finkelstein Y, Jedeikin R. Continuous propofol for patients with myotonic dystrophy.  Brit J Anaesth. 2000;  85 407-409
  • 9 Wappler F, Scholz J, von Richthofen V, Fiege M, Matschke J, Winkler G, Laas R, Schulte am Esch J. Inzidenz der malignen Hyperthermie bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen.  AINS. 1998;  33 373-380
  • 10 Wappler F. Malignant Hyperthermia.  Eur J Anaesth. 2001;  18 632-652
  • 11 Weißhorn R, Wappler F, Fiege M, Gerbershagen M U, Schulte am Esch J. In-vitro-Effekte von Kokain an Skelettmuskelpräparaten von Patienten mit Veranlagung zu maligner Hyperthermie.  AINS. 2002;  37 138-143
  • 12 Censier K, Urwyler A, Zorzato F, Treves S. Intracellular calcium homeostasis in human primary muscle cells from malignant hyperthermia-susceptible and normal individuals. Effect of overexpression of recombinant wild-type and Arg163Cys mutated ryanodine receptors.  J Clin Invest. 1998;  101 1233-1242

Priv.-Doz. Dr. Frank Wappler

Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: wappler@uke.uni-hamburg.de

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