Erfahrungsheilkunde 2002; 51(2): 88-93
DOI: 10.1055/s-2002-20270
Originalia

Karl F. Haug Verlag, in: MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Entwicklung der Psychotherapie unter historischen Gesichtspunkten

Barbara Wolf-Braun
  • Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn
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Publication Date:
22 February 2002 (online)

Zusammenfassung

In dem Beitrag wird der Zusammenhang zwischen der Entwicklung und Rezeption von psychotherapeutischen Verfahren und zeitspezifischen politischen und kulturellen Bedingungen in Deutschland in der Zeit von 1880 bis 1945 untersucht. So förderte um die Jahrhundertwende die zivilisationskritische Diagnose eines „nervösen Zeitalters” eine Ausrichtung der Psychotherapie in Richtung Erziehung und Entspannung. Der Erste Weltkrieg trug durch die Behandlung der sog. Kriegsneurotiker wesentlich zur Verbreitung der Psychotherapie bei. In der Weimarer Republik bestand eine große Vielfalt an psychotherapeutischen Richtungen. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs führte zu einer allgemeinen Krisenwahrnehmung (Krise des Materialismus, Krise der Wissenschaften), die die Verbreitung holistischer Gegenentwürfe förderte, zu denen auch die Psychotherapie gehörte. Sie sollte auch als Heilmittel zur Bewältigung der Probleme der Moderne eingesetzt werden: Desorientierung und Angst angesichts von Rationalisierung und Massenarbeitslosigkeit. Das rapide gestiegene Interesse an Psychotherapie unter Ärzten zeigt der erste Kongreß der „Allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie” 1926, bei dem man sich für eine schulenübergreifende Psychotherapie und die Etablierung eines Facharztes einsetzte.

Im Nationalsozialismus stellte sich die Psychotherapie in den Dienst des Regimes mit dem Ziel der Unterordnung und Anpassung des Individuums an die herrschende Ordnung zum Wohle des „Volkskörpers”. In dieser Zeit konnte sich die Psychotherapie gesellschaftlich weitgehend etablieren, so dass in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auf dieser Entwicklung aufgebaut werden konnte.

Abstract

In the article, the connection between the development and reception of psychotherapeutic procedures and time-specific political and cultural conditions in Germany between 1880 to 1945 is investigated. At the turn of the century, the civilization-critical diagnosis of a “nervous age” supported an orientation of psychotherapy towards education and easing of tension. With the treatment of the so-called war neurotics, the First World War essentially contributed to the dissemination of psychotherapy. In the Weimar Republic, there was a great variety of psychotherapeutic trends. The disaster of the First World War lead to a general awareness of crises (crisis of materialism, crisis of science), which supported the dissemination of holistic alternative plans, psychotherapy also was part of. It was also used as a remedy for coping with the problems of modern age: disorientation and fear in view of rationalization and mass unemployment. The rapidly increased interest in psychotherapy among physicians was shown by the first congress of the “Allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie” (General medical society for psychotherapy) in 1926, where the participants supported an inter-disciplinary psychotherapy as well as the establishment of a medical specialist.

During National Socialism, psychotherapy devoted itself to the cause of the regime with the aim of subordinating and adapting the individual to the ruling order for the benefit of the “Volkskörper” (body of the German Volk). During this time, it was possible for psychotherapy to establish itself in society to a large degree, so that during the years after the Second World War it was possible to use this development as a basis.

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01 Zur Geschichte der Hypnose siehe auch: Gauld 1992; Schott u. Wolf-Braun 2000; Wolf-Braun 2000

02 Es wurde ein Flut an Literatur produziert: 1888 veröffentlichte Max Dessoir eine Bibliographie des modernen Hypnotismus, die 801 neuere Titel aus der wissenschaftlichen Literatur enthielt. 1890 fügte er 382 neue Titel hinzu, von denen sich ein Großteil mit dem Problem der Verbrechen in Hypnose befasste (Dessoir 1888, 1890).

03 Siehe dazu den Klassiker der Psychotherapiegeschichte von Henri F. Ellenberger (1973): Die Entdeckung des Unbewußten. 2 Bände. Bern: Huber

04 So z.B. Walter Cimbal, der sich wie andere psychotherapeutische Ärzte auch über die einseitige materialistische Ausrichtung der Schulpsychiatrie beschwerte. Vgl. Zeller 2001, S. 97-99

05 1940 hatte das Institut 204 Mitglieder, mit einem relativ hohen Anteil an Frauen. Vgl. Lockot 1985, S. 190f

06 Nach einem Vortrag von Hattingberg 1943 an der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Zitiert nach Lockot 1985, S. 192f

07 Vgl. dazu Cocks 1985, insbesondere das letzte Kapitel über die Psychotherapie im geteilten Deutschland der Nachkriegszeit.

Korrespondenzadresse

Dr. phil. Barbara Wolf-Braun

Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn

Sigmund-Freud-Str. 25

53105 Bonn

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