PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(4): 387-388
DOI: 10.1055/s-2001-19621
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Depression -
die friedensstiftende
Diagnose

Jochen Schweitzer, Ulrich Streeck
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Publication Date:
18 January 2002 (online)

Manche Themen der Psychotherapie, zumal wenn es um Gefühle und affektive Störungen geht, scheinen sich wie mit einem Schleier auf die legen zu können, die sich in ihrem Umkreis bewegen. Selbst noch die Tätigkeit von Herausgebern kann offenbar von dem seelischen Befinden geprägt werden, das bei ihrer Arbeit Thema ist.

So entstand dieses Heft in vergleichsweise ruhiger, manchmal etwas schwerer, insgesamt konfliktarmer, nicht immer entscheidungsfreudiger, häufiger dagegen etwas angestrengter und anspruchsvoller, jedoch keineswegs immer inspirierter Atmosphäre. Die Auswahl der anzusprechenden Autoren war unstrittig, der Prozess der Zusammenarbeit mit ihnen freundlich und arbeitsam. Selbst ausgesprochene Zumutungen an Überarbeitungswünschen nahmen sie hin - vielleicht nicht froh, aber duldsam. Unsere Fantasien als Herausgeber kreisten darum, dass wir eigentlich zu viel arbeiten, um Zukunftsideen eines ruhigeren Lebens bis hin zum Nachdenken über ein Leben nach der Berentung. Nicht ohne Neid - eine weitere Auswirkung unseres Themas? - ging unser Blick gelegentlich zurück auf das vorangegangene Heft über sexuelle Störungen, in dem die Herausgeber von „höchst brisanten Themen” und „extrem differierenden Standpunkten” berichteten und am Ende gar behaupteten, dass ‚Sex auch Spaß machen’ kann. In der Depression gibt es keinen Spaß; da geht es zwar auch um Verbindungen zu anderen und um Nähe, aber statt um Lust mit dem anderen um Pflicht, Leistung, Versagen, Schuld, um Selbstherabsetzung, Schwere und Hoffnungslosigkeit.

Da wir nicht schon immer zum Depressiven neigten und um uns von der Schwere des Themas nicht zu sehr niederdrücken zu lassen, machten wir uns schon früh auf die Suche nach Beiträgen, die einige Polarisierungen und Konflikte in das depressive Dunkel hineintragen könnten. Mit einer Anfrage an das niederländische Königshaus waren wir offenbar noch genau den hohen Ansprüchen an uns selbst erlegen, die auch viele der Menschen kennzeichnen, die dazu neigen, depressiv zu werden. Aber auch Alice Schwarzer konnten wir trotz intensiver Bemühungen zu einem Interview weder verführen noch gewinnen, und die Absagen verdüsterten unsere Stimmung weiter und hemmten unsere Aktivität. Umso begeisterter waren wir dann, als wir mit dem Tübinger Rhetorikprofessor und Mitbegründer der Gruppe 47, Walter Jens, und seiner Frau, der Germanistin und Thomas-Mann-Editorin Inge Jens, zwei wortmächtige, zur geistigen Polarisierung anregende Interviewpartner fanden. Die gemeinsame Fahrt nach Tübingen, zusammen mit Marion Ueckert, wurde uns zum gruppendynamischen Highlight der Heftvorbereitung und zudem zu einem Bildungserlebnis.

Depression scheint Ein-heit schaffen zu wollen, Zwei-heit und Verschiedenheit dagegen zu scheuen. Getrennt zu sein und erst durch Getrenntheit verbunden sein zu können, Konflikte, Meinungsverschiedenheiten, Zwie-spalt stören die Ein-heit, die depressives Erleben sucht. Aber die im Feld der Depression ersehnte Einheit ist trügerisch, geht sie doch mit dem Verlust von Lebendigkeit einher, die aus Verschiedenheit erwächst. Depressive Menschen und ihr Umfeld, Therapeuten, selbst nicht selten zum Depressivsein neigend, nicht ausgenommen, gehen oft betont freundlich und sanftmütig miteinander um, ohne sich (á la longue) damit aber Freude zu machen. Jeder bemüht sich, will es recht machen, will nicht schuld sein und fühlt sich doch schlecht, zumindest nicht gut genug und schuldig. Jeder schraubt die Ansprüche an sich selbst hoch, hält seine offensiven Wünsche zurück und verzichtet mehr oder weniger weitgehend auf sein Sich-Unterscheiden-Wollen, zumal auf aggressive Gefühle und Handlungen, die als aggressiv verstanden werden könnten. Man versucht, „gut” zueinander zu sein, sich zu schonen, Übereinstimmung zu wahren, sich nichts zuzumuten, aber so recht scheint nichts von alledem zu gelingen.

Dank solcher friedensstiftenden Potenz ist „Depression” auch eine bei Patienten und Therapeuten beliebte Diagnose. In epidemiologischen Studien, in der Gemeinde wie in Arztpraxen, gehört sie zu den häufigst anzutreffenden, mithin also zu den am häufigsten den Forschern berichteten. Von Ärzten und Psychotherapeuten wird die Diagnose „lieber” gestellt als manche andere, weil sie weniger stigmatisiert. Wer depressiv ist, hat es schwer, und die therapeutische Aufgabe ist es, dem Depressiven das Leben wieder leichter zu machen. So scheint die Diagnose „Depression” dem Therapeuten auf den ersten Blick in Aussicht zu stellen, der gute Helfer zu sein, als der er gerne gesehen wird und sich gerne sehen lässt. Sie flößt weniger Angst vor ungeliebten Überraschungen ein als „Psychose”, weniger Kontrollängste als „Zwang”, weniger Furcht vor unangenehmen Zeitgenossen als „Persönlichkeitsstörung”. Auch Angehörige geraten nach unserer Erfahrung weniger in Unruhe durch diese als durch andere Diagnosen. Nur den Schriftstellern scheint die Depression - vergleicht man sie mit dem Wahn, den Halluzinationen, der Paranoia, aber auch den freiflottierenden und objektgebundenen Ängsten - ein weniger ergiebiges und daher weniger geliebtes Thema zu sein.

Wenn also Depression eine Diagnose mit hoher Konsensfähigkeit und düsterer Farblosigkeit ist - was hilft dann hinaus?

Wir haben in diesem Heft die Antworten mehrerer Therapieschulen zusammengestellt. Vertraut sind als Pioniere die von Herbert Will dargestellte Psychoanalyse und (weil die Depression für sie ein echtes „Heimspiel” ist) die von Sabine Gollek veranschaulichte klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Der Beitrag zur kognitiven Therapie der Depression nach Beck ist ausnahmsweise keine Originalarbeit. Nachdem wir nach anfänglichen Zusagen mehrere - in jedem Einzelfall durchaus verständliche - kurzfristige Absagen von Autoren erhielten, ist es uns trotz vielfacher Anfragen und intensiver Bemühungen nicht gelungen, verhaltenstherapeutisch arbeitende Kolleginnen oder Kollegen dafür zu gewinnen, unter hohem Zeitdruck und kurzfristig diese Therapiemethode darzustellen. Wir haben deshalb einen Text hier aufgenommen, dessen Qualität und hohe Kompetenz einen Wiederabdruck rechtfertigt. Die Arbeit von Friederike T. Zimmer ist in der „Praxis der Psychotherapie” erschienen und erscheint in diesem Heft in leicht gekürzter Fassung.

Die systemische Therapie präsentiert sich diesmal, personifiziert durch Gunter Schmidt, gemeinsam mit der Ericksonschen Hypnotherapie als Zwillingspärchen. Elisabeth Schramm stellt die Interpersonelle Psychotherapie nach Klerman und Weissman dar. Als Exotikum haben wir die Provokative Therapie - dargestellt durch Eleonore Höfner - hinzugetan; wir sind gespannt, wie unsere Leser dieses Antidepressivum aufnehmen.

Vorgelebte Integrationsversuche psychotherapeutischer Schulen nehmen in den uns zugesandten Beiträgen zu. Am sichtbarsten ist dies im Beitrag von Matthias Hermer. Auf andere Weise integrieren Askan Hendrischke und Mitarbeiter unter dem konzeptionellen Rahmen der systemischen Familienmedizin in einer echten Komplexbehandlung körpermedizinische mit psychotherapeutischen Interventionen aus unterschiedlichen Therapieschulen und in unterschiedlichen Therapiesettings.

Die Depression der Jugend und die Depression des Alters - sie fühlen sich anders an, machen sich an anderen Problemauslösern fest, brauchen andere Behandlungsstrategien. Dies verdeutlichen uns mit Eginhard Koch und Rieke Ölkers zwei noch jüngere Kinderpsychiater und mit Hartmut Radebold ein bereits emeritierter Pionier der Geronto-Psychotherapie.

Was muss man sonst noch über Depression wissen? Klar: Man muss es sich gut genug gehen lassen, um mit Depressiven zu arbeiten, ohne selbst depressiv zu werden. Anregungen dazu bietet Jörg Fengler. Manchmal, besonders initial und bei schwerer Symptomatik, braucht man Antidepressiva. Deren in letzter Zeit rasch fortgeschrittene Weiterentwicklungen beschreibt als Experte der Psychopharmakologie Wolfgang Poser. Zwar stellen depressive Situationen mögliche Risikofaktoren für Suizidalität dar, aber Suizidalität geht längst nicht in Depressiv-Sein auf, wie Reinhard Lindner aufzeigt.

Dass man über Depression inzwischen auch viel statistisch signifikant belegtes Wissen vorzeigen kann, ist bei einer so beliebten Diagnose nicht verwunderlich, aber doch erfreulich. Richtiggehende „Forschung aus der Praxis” fanden wir diesmal nicht, aber dafür zwei für die Praxis und für uns anregende Hinweise, die zeigen: Es gibt ganz bestimmte Beziehungskonstellationen, die depressionsfördernd wirken (wie Matthias Backenstrass und Mitarbeiter aus der Gruppe um Christof Mundt nachgewiesen haben), und es gibt ganz bestimmte Psychotherapieansätze, die hirnbiologisch nachweisbare Veränderungen auslösen (wie Torsten Grüttert aus der Gruppe um Josef Aldenhoff aufzeigt).

Um zum Schluss über all das den Überblick zu behalten, sollte man Manfred Wolfersdorfs zusammenfassenden „Standpunkte”-Aufsatz lesen (wir selbst lesen die Überblicksartikel immer am Ende).

So bleibt uns nur die Frage: Wie wird es Ihnen denn - stimmungsmäßig, aktivitätsmäßig und so - beim Lesen dieses Heftes gehen?


Jochen Schweitzer
Ulrich Streeck

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