Erfahrungsheilkunde 2001; 50(12): 791-792
DOI: 10.1055/s-2001-19600
Nachlese

Karl F. Haug Verlag, in: MVH Medizinverlage Heidelberg GmbH & Co. KG

50 Jahre Erfahrungsheilkunde - von der Empirie zur Evidenz-basierten Medizin

E. Dieter Hager
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Publication Date:
17 January 2002 (online)

Schulmedizin ist primär Erfahrungsmedizin. Evidenzbasierte Medizin (EBM) ist nach David L. Sacket, dem Begründer der EBM, Lehrer am Center for Evidence-based Medicine in Oxford, die gewissenhafte, vernünftige und bestmöglichste Nutzung der gegenwärtig besten externen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur medizinischen Versorgung von Patienten. EBM beinhaltet die Integration von individuellem ärztlichen Können und Urteilskraft aufgrund praktischer Erfahrung (Expertise des Arztes) mit der best verfügbaren externen Beweiskraft basierend auf klinisch relevanter und insbesondere Patientenorientierter Forschung hinsichtlich der Genauigkeit und Reproduzierbarkeit diagnostischer Verfahren und der Wirksamkeit und Sicherheit therapeutischer, rehabilitativer und präventiver Maßnahmen.

EBM bewertet demnach diagnostische und therapeutische Verfahren nach dem jeweils aktuellen Wissensstand, korrigiert alte Methoden und ersetzt diese durch wirksamere und sicherere Maßnahmen. Die Bewertung erfolgt nach Literaturrecherchen und strukturierten Bewertungen der Literatur.

Dr. med. Dr. rer. nat. E. Dieter Hager Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Ärztegesellschaft für Erfahrungskeilkunde e.V.

Am Anfang steht die Empirie. Diese ist durch experimentelle und klinische Untersuchungen entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. Als methodenanalytischer Goldstandard der klinischen Prüfung gilt gegenwärtig die prospektive, randomisierte Studie, die nach den Prinzipien der „Good Clinical Practice” durchgeführt werden. Die Qualität des wissenschaftlichen Erkenntnismaterials wird nach den in [Tabelle 1] genannten Kriterien geordnet.

Tabelle 1: Grad der Evidenz-Beschreibung Empfehlungstyp A Ia Evidenz aufgrund von Metaanalysen von randomisierten, kontrollierten Studien Ib Evidenz aufgrund von mindestens einer randomisierten, kontrollierten Studie B IIa Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, kontrollierten Studie ohne Randomisation IIb Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, quasi-experimentellen Studie III Evidenz aufgrund gut angelegter, nichtexperimenteller, deskriptiver Studien, z.B. Therapieoptimierungsvergleichen, Fallkontrollstudien C IV Evidenz aufgrund von Berichten der Expertenausschüsse oder Expertenmeinungen und/oder klinischer Erfahrung anerkannter Autoritäten („unizentrische Empirie”)

In der Erfahrungsheilkunde wurden in den vergangenen 50 Jahren, seit Bestehen der Ärztegesellschaft für Erfahrungsheilkunde, viele Methoden aus den Bereichen der Naturheilverfahren (Licht, Luft, Wasser, Bewegung als Heilmittel), Phytotherapie, Organotherapie und Homöopathie wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit geprüft. Die oft geäußerte Meinung, diese Methoden seien nur für Befindlichkeitsstörungen und nicht für objektivierbare Erkrankungen anwendbar, ist einfach falsch. So sind z.B. viele der Arzneipflanzen und die aus ihnen hergestellten Fertigarzneimittel wissenschaftlich untersucht und erfüllen die Kriterien für eine gute EBM (siehe [Tabelle 2]). Dass diese Methoden außerdem nebenwirkungsarm und kostengünstig sind, erhöht ihren Wert für Arzt und Patient und letztlich auch für die Gesellschaft.

Tabelle 2: Wissenschaftlich evaluierte Phytotherapeutika Arzneimittel Indikationen Baldrian (Valeriana) Unruhezustände, nervös bedingte Einschlafstörungen Johanniskraut (Hypericum) Psychovegetative Störungen, depressive Verstimmung, Angst/Unruhe Ginkgo Hirnorganisch bedingte Leistungsstörungen, art. Verschlusskrankheit, Schwindel, Tinnitus Kava-Kava Nervöse Angst, Spannungs- und Unruhezustände Weißdorn (Crataegus) Nachlassende Leistungsfähigkeit des Herzens (NYHY II) Efeu Katarrhe der Luftwege, chronisch-entzündliche Bronchialerkrankungen Thymian Katarrhe der oberen Luftwege und Bronchitis Sonnenhut (Echinacea) Wiederkehrende Infekte der Atemwege und der Harnwege, grippale Infekte Mariendistel (Silymarin) Chronisch-entzündliche Lebererkrankungen, Leberzirrhose u. toxische Leberschäden Keuschlamm (Agnus castus) Prämenstruelle Beschwerden, Mastodynie Traubensilberkerze (Cimicifuga) Psychische und neurovegetative Beschwerden der Frau durch Wechseljahre bedingt Sägepalme Sabal Gutartige Prostatavergrößerung Rosskastanie Chron. Veneninsuffizienz (z.B. nächtl. Wadenkrämpfe, Beinschwellungen) Teufelskralle Arthrose, rheumatische Beschwerden Weidenrinde Fieberhafte Erkrankungen, Schmerzen, rheumatische Beschwerden Mistel Unterstützende Behandlung bei malignen Tumoren Pfefferminze Reizdarm, Bauchschmerzen, Blähungen, Völlegefühl, Verstopfung, Durchfall

In großen epidemiologischen Interventionsstudien und kontrollierten randomisierten Studien konnte für viele Methoden der Erfahrungsheilkunde eine Wirksamkeit bestätigt werden, die der konventioneller Behandlungen nicht nachsteht, so z.B. für Omega-3-Fettsäuren (Herz-, Kreislaufkrankheiten), Johanniskraut (depressive Verstimmung), Weidenrindenextrakt (Schmerzen und rheumatische Beschwerden) etc., die aber in puncto Verträglichkeit und Compliance bei den Patienten wesentlich besser sind.

In den vergangenen 50 Jahren ist ein wachsendes Vertrauen in die Naturheilmittel entstanden. Immer mehr Bundesbürger greifen im Krankheitsfall ergänzend oder als alleinige Therapie auf Mittel aus der Erfahrungsheilkunde zurück. Nach einer Analyse des Allensbacher Instituts für Demoskopie aus dem Jahre 1997 zählen heute 65 Prozent der Bevölkerung zu Anwendern von Naturheilmitteln, 1970 waren es erst 52 Prozent. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich z.B. auch in den USA.

Die amerikanische Regierung hat daher 1999 ein National Institute for Complementary and Alternative Medicine eingerichtet, das die Methoden der komplementären Medizin erforschen soll. Für das nächste fiskalische Jahr hat die amerikanische Regierung diesem Institut einen Forschungsetat von 220 Millionen USD zur Verfügung gestellt.

Es täte der deutschen Regierung auch gut, wenn sie diesem Beispiel folgen würde - zum Wohle der Patienten und zur Entlastung des Etats der Krankenkassen.

Dr. med. Dr. rer. nat. E. Dieter Hager

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