Rehabilitation (Stuttg) 2001; 40(6): 357-358
DOI: 10.1055/s-2001-18967
Bericht
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der [im-]perfekte mensch. vom recht auf
unvollkommenheit -
Eine Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums und der Aktion Mensch vom Dezember 2000 bis August 2001 in Dresden

The [im]perfect human being. The right to not being perfectS.  Ellger-Rüttgardt
  • 1Institut für Rehabilitationswissenschaften, Fachabteilung Allgemeine Rehabilitationspädagogik,
    Humboldt-Universität zu Berlin
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
13. Dezember 2001 (online)

Die vom 20. Dezember 2000 bis 12. August 2001 am Deutschen Hygiene-Museum in Dresden gezeigte Ausstellung hat dem Museum, das demnächst in eine Phase der Rekonstruktion eintreten wird, einen unerwarteten Zuschauerstrom bereitet. Die Ausstellung ist der sichtbare Ausdruck für das Selbstbewusstsein behinderter Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch für die Bereitschaft dieser Republik, Verständnis und Anerkennung für eine Personengruppe in das öffentliche Bewusstsein zu rücken, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein und leider auch noch in der Gegenwart immer wieder auch mit Ablehnung und Unverständnis konfrontiert wird.

Der Besucher wird in der Eingangshalle mit Bildern von Schönheit konfrontiert, die aber zugleich auf die Einseitigkeit eines Menschenbildes verweisen, das nur durch Perfektion gekennzeichnet ist. Und auch schon im Eingangsbereich finden sich Abbildungen, die die ausgestellten Leitideale von Schönheit, Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Genussfähigkeit hinterfragen und ironisieren.

In dem sich anschließenden Raum betritt der Besucher das Traumland Arkadien, in dem friedliche Lämmer weiden, grüne Bäume gedeihen und ein strahlend blauer, mit leichten weißen Wolken besetzter Himmel erstrahlt.

Aber auch hier gibt es einen Hinweis auf Unvollkommenheit: das kleine schwarze Lamm, das aber wie selbstverständlich in der Mitte der Herde steht. Dieses schwarze Schaf, das dazugehört, ist gewissermaßen das Motto für die gesamte Ausstellung: Der Mensch ist nicht vollkommen und alles Streben danach gefährdet sein Menschsein und den Reichtum der menschlichen Gattung.

Ein als Erlebnispark gestalteter Raum öffnet emotionale und sinnliche Zugänge zum Thema „Wahrnehmung”. Verschiedene Installationen ermöglichen Einblicke in unbekannte Bereiche des Sprechens, Sehens, Hörens, Verstehens, Berührens und Bewegens. Audiovisuelle Erfahrungsberichte von Menschen mit Behinderungen stehen den Besuchern als „Begleiter” durch den Erlebnispark zur Seite.

Bei dem Thema „Berühren” habe ich mein eigenes Bildungserlebnis. Unter dem Hinweis auf die problematische Situation, dass Pflegebedürftige sich häufig nicht über die Berührungen entscheiden können, die an ihnen durchgeführt werden, wird der Besucher aufgefordert, seine Hand in verschiedene Röhren zu stecken. Ich zucke, unangenehm berührt, meine Hand blitzschnell weg, als ich etwas mir unangenehmes Haariges ertaste ...

Der nächste Bereich trägt den Titel „Die Mauern”. Bevor der Besucher einen gekachelten Anstaltsraum betritt, passiert er einen Gang, auf dem verschiedene Gucklöcher in einer Wand angebracht sind, hinter denen sich Bilder als Prototypen für den Blick auf behinderte Menschen verbergen: Der mitleidige, ausschließende, fremde, staunende, medizinische, vernichtende, instrumentalisierende und bewundernde Blick.

Ich stelle mir die kritische Frage: Ist Mitleid wirklich als eine negative Verhaltensweise zu interpretieren, der man die herablassende Attitüde zuschreibt, oder ist Mitleid und damit auch Leid nicht etwas, das zu uns als Menschen gehört und sogar einer unserer besten Anteile ist?

Die als gekachelter Anstaltsraum gestaltete nächste Raumeinheit thematisiert den historischen Blick auf den Umgang mit behinderten Menschen seit dem 19. Jahrhundert, wobei die Zeit des Nationalsozialismus einen besonderen Schwerpunkt darstellt.

Den Abschluss der Ausstellung bietet der Raum „Die Lichtung”. Hier werden aktuelle offene Fragen um Bioethik, Gentechnologie und Pränataldiagnostik durch Stellungnahmen von sehr verschiedenen, nicht zuletzt behinderten Menschen direkt an den Betrachter weitergereicht. Die Offenheit dieses Raumes lädt zum eigenen Nachdenken ein.

Die Ausstellung kann als ein gelungener Versuch angesehen werden, zu informieren über das Leben behinderter Menschen in unserer Gesellschaft, über den historischen Umgang mit dem, was wir allzu leicht „normal” nennen, und zu sensibilisieren für das Nachdenken über das, was das Menschsein bedeutet in seiner Vielfalt, Einmaligkeit und Verletzlichkeit.

Prof. Dr. Sieglind Ellger-Rüttgardt

Entenweg 32

22549 Hamburg

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