Zentralbl Chir 2001; 126(9): 659-660
DOI: 10.1055/s-2001-18236
Editorial

J.A.Barth Verlag in Medizinverlage Heidelberg GmbH & Co.KG

Intensivmedizin zwischen Technik und Humanität

Die Suche nach GrenzenIntensive care medicine between technique and humanityThe search for limitsM. Mohr
  • Zentrum Anaesthesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin (Geschäftsf. Leiter: Prof. Dr. D. Kettler) Göttingen
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Publication Date:
06 November 2001 (online)

Das apparative Potential der Intensivmedizin und die in der Öffentlichkeit verbreitete Angst vor einem ungerechtfertigten Einsatz der Technik am Lebensende werfen die Frage nach den Grenzen der Intensivmedizin auf. In dem Beitrag „Lassen sich Grenzen intensivtherapeutischen Handelns festlegen?” kritisierenSchubert und Nöldge-Schomburg in dem vorliegenden Heft, daß in der Intensivmedizin auf der Ebene der Entscheidungen und Handlungen eine eindeutige Festlegung von Therapiegrenzen fehlt [9]. Nach Überzeugung der Autoren liefern weder die Gesetzgebung, noch moralische Normen oder objektive wissenschaftliche Parameter Kriterien, die eine Konkretisierung von Grenzen erlauben. Die Würde des Menschen und sein Recht auf Selbstbestimmung seien als Grenzen zwar allgemeingültig, ihre Identifikation und Beachtung in der klinischen Praxis am Krankenbett jedoch schwierig. Die Autoren betonen, daß sich in der Intensivmedizin ärztliches Handeln nicht auf die Anwendung von Methoden und Gerä ten beschränkt, ebenso wichtig sei die menschlich-soziale Kompetenz. Diese Aussage unterstreicht die Notwendigkeit einer humanen Dimension der hoch technisierten Intensivmedizin.

Trotz der vonSchubert und Nöldge-Schomburg dargestellten Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten, klare Handlungsgrenzen für die Intensivmedizin zu definieren und diese in die klinische Praxis umzusetzen, darf hier sicherlich nicht einer ä rztlichen Entscheidungswillkür das Wort geredet werden. Die Intensivmedizin ist zwar ein Spezialbereich der Medizin. Doch ist keinesfalls eine Sonderethik für diesen Bereich erforderlich. Jeder Arzt ist in seinem Handeln dem Wohl und den Wünschen des Patienten verpflichtet. Ärztliches Handeln wird sich auch in der Intensivmedizin an allgemeinen Grundsätzen orientieren müssen. Schubert und Nöldge-Schomburg versuchen, mögliche rechtliche, medizinische und ethische Grundlagen zu benennen. Der Schutz des menschlichen Lebens stellt einen solchen Grundsatz dar. Die Autoren verweisen auf das Tötungsverbot und fordern mit Blick auf die aktive Sterbehilfe von dem intensivmedizinisch tätigen Arzt äußerste Zurückhaltung. Hinzugefügt werden muß, daß gesetzliche Vorgaben in der Medizin lediglich als Handlungsrahmen dienen können. Die juristische Bewertung einer ärztlichen Entscheidung wird sich im Konfliktfall auf eine medizinische Begutachtung stützen. Gesetze definieren für die Medizin letztlich die von der Gesellschaft im Konsens für das ärztliche Handeln vorgegebene moralische Ausrichtung. Hierzu zählt der Respekt vor der Würde des Menschen, einschließlich der Beachtung des Rechts auf ein Sterben in Würde [2]. Ärzte dürfen sich von Juristen nicht die Lösung ethischer Entscheidungskonflikte am Krankenbett erhoffen. Die Rechtsprechung wird „lediglich” die Übereinstimmung ärztlichen Handelns mit den gesetzlichen Vorgaben prüfen.

Medizinische Kriterien als objektive Behandlungsgrenze sehen Schubert und Nöldge-Schomburg bei klinischen Extremsituationen (z. B. Hirntod). In der großen Mehrzahl von Einzelfallentscheidungen sind jedoch die Unzulänglichkeiten von Score-Systemen oder der Betrachtung von einzelnen Laborparametern zur Prognoseabschätzung hinlänglich nachgewiesen worden [7]. Ebenfalls zum Scheitern verurteilt sehen Schubert und Nöldge-Schomburg den Versuch, über die Bewertung des Sinns von Behandlungsmaßnahmen die Frage nach intensivmedizinischen Grenzen konkreter zu beantworten. Den Autoren ist beizustimmen, daß angesichts der Pluralität der Wertsysteme sich keine einheitlichen weltanschaulichen Entscheidungsgrundlagen für eine Therapiebegrenzung oder einen Therapieabbruch ableiten lassen. Der Sinn einer Behandlung kann nur über den Nutzen für den jeweiligen Patienten definiert werden. Dieser Nutzen umfaßt neben dem mö glichen medizinischen Ergebnis und der Chance, dieses Ergebnis zu erzielen, immer auch die individuelle Bewertung dieser Ziele durch den Patienten [4].

Muß die Frage nach der Konkretisierung intensivmedizinischer Handlungsgrenzen unbeantwortet bleiben? Mü ssen wir - angesichts der Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden - die Suche nach einem auch in der Praxis am Krankenbett tragfähigen Konsens einstellen? Schubert und Nöldge-Schomburg befürworten für den klinischen Alltag ein kontextabhängiges Vorgehen. Sie beschreiben oder zitieren klinische Konstellationen, in denen Therapiebegrenzung oder -abbruch in Frage kommen. Die Autoren propagieren die Festschreibung des Entscheidungsfindungsprozesses innerhalb einer Institution mit Hilfe von Abteilungsrichtlinien. Ähnliches ist aus dem Bereich des Qualitätsmanagements als Arbeitsanweisungen oder „Standards of procedures” bekannt. Sicherlich können Abteilungsrichtlinien einen wichtigen und vielfach vernachlässigten Schritt zur Klärung von Konfliktfeldern und zur Qualitätssicherung in der Intensivmedizin darstellen. Doch basieren die von Schubert und Nöldge-Schomburg empfohlenen Verfahrensanweisungen nicht ihrerseits wiederum auf Grundsätzen ärztlichen Handelns? Klinische Konstellationen gibt es unbegrenzt viele. Erst die Kenntnis von Normen und Grundwerten ermöglicht eine fundierte und nachvollziehbare Problemlösung in der Praxis. Dies gilt in besonderem Maße in der sich rasant weiterentwickelnden Intensivmedizin. Die Fähigkeit zur Reflexion ethischer Grundsätze erlaubt es, im Einzelfall moralisch positives (ärztliches) Handeln zu begründen und auch neue medizinische Handlungsmöglichkeiten und Herausforderungen mit der entsprechenden ethischen Kompetenz zu handhaben [2]. Begründungen müssen intersubjektiv überprüfbar sein und damit ein hinreichendes Maß an Verallgemeinbarkeit besitzen [2].

Worauf begründet sich aber in jedem einzelnen klinischen Konflikt die Entscheidung? Welche Grundsätze können greifen, wenn auch vielfach zunächst unbewußt? Ärztliches Handeln wird sicherlich nicht auf einer Situationsethik (oder „Konstellationsethik”) beruhen, sondern bedarf einer Orientierung an Prinzipien. Hierzu zählen der Respekt vor der Autonomie des Patienten, ein Handeln zu seinem Wohle, die Vermeidung einer Schädigung und Gerechtigkeit im Umgang mit den verfügbaren Mitteln [1]. Diese Prinzipien begründen die Achtung der menschlichen Würde, besonders im Sterben, und den Schutz des Lebens. Hinzu kommt die gerechte Verteilung der auch in modernen Industrienationen mittlerweile begrenzten ökonomischen Ressourcen. Solchen Prinzipien können durchaus unterschiedliche persönliche Überzeugungen übergeordnet sein. Ethische Prinzipien bilden die gemeinsame Ebene, auf der sich differierende Weltanschauungen treffen [1]. Ein derartiger Konsens hilft, die Diskussion unterschiedlicher Ideologien zu vermeiden.

Den allgemeinen Prinzipien nachgeordnet sind Regeln und Pflichten, die einen stärkeren Bezug zur Praxis aufweisen. Solche Regeln kennen wir in bindender Form als Gesetze oder abgeschwächt als Vorgaben von Fach- und Berufsverbänden. Zentrale intensivmedizinische Fragen zu Tod und Sterben wurden bereits 1979 in der Resolution der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie angesprochen [6]. In jüngerer Vergangenheit stehen mit Blick auf die Intensivmedizin auf nationaler Ebene die Empfehlungen der Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin und der Bundesärztekammer im Vordergrund [3] [5]. International sei auf die Publikationen der Society of Critical Care Medicine verwiesen [10] [11] [12]. Den Regeln und Leitlinien nachrangig einzustufen sind Verfahrensanweisungen, die auf Abteilungs- oder Kliniksebene die Umsetzung der Vorgaben festlegen. Hier ist der Ansatz von Schubert und Nöldge- Schomburg zu unterstreichen, kliniksinterne Verfahrensanweisungen auf die Handhabung von Entscheidungskonflikten am Lebensende auszudehnen. Festgelegt wird dabei die Prozeßstruktur bei der Klärung von Therapiegrenzen im Einzelfall, nicht das Ergebnis. Das Ergebnis sollte geprä gt werden von den zugrunde gelegten ethischen Prinzipien. Bei kontroverser Diskussion kann eine externe Beratung in Form eines Ethik-Konsils zur Entscheidungsfindung beitragen [8].

Adäquates Handeln läßt sich nicht einfach aus der Erfahrung herleiten. Es bedarf einer eigenen ethischen Kompetenz. Voraussetzung hierfür ist die Kenntnis und Akzeptanz der Grundsätze moralisch korrekten Handelns [2]. Weiterhin erforderlich ist eine sorgfältige vorausschauende Diskussion potentieller Konflikte und eine eingehende Analyse stattgefundener Krisensituationen beim Umgang mit Tod und Sterben in der Intensivmedizin. Nur durch einen solchen persönlichen Lernprozeß läßt sich die Fähigkeit entwickeln, akut auftretende ethische Konflikte bei Therapiebegrenzung oder -abbruch schnell zu lösen. Ein ärztlicher Ermessensspielraum und Entscheidungskorridor wird trotz aller Regeln und Vorgaben oftmals bestehen bleiben, verbunden mit einem Rest von Zweifeln. Intensivmedizin bedeutet Arbeiten in Grenzsituationen, einschließlich des Erlebens persönlicher Grenzen. Ethische Normen bilden eine Hilfe, die individuell umgesetzt werden muß. Dies erfordert Urteilskraft, aber auch verantwortlichen Mut.

Literatur

  • 1 Beauchamp T L, Childress J F. Principles of biomedical ethics. 4. edn., Oxford University Press, New York 1994
  • 2 Beckmann J P. Zur Frage der ethischen Legitimation von Handeln und Unterlassen angesichts des Todes. In: Mohr M, Kettler D (Hrsg). Ethik in der Notfallmedizin: Präklinische Herz-Lungen-Wiederbelebung. Springer, Berlin 1997; 57-67
  • 3 Bundesärztekammer . Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung.  Dtsch Ärztebl. 1998;  95 1509-1516
  • 4 Crimmins T J. Ethical issues in adult resuscitation.  Ann Emerg Med. 1993;  22 495-501
  • 5 Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin . Grenzen der intensivmedizinischen Behandlungspflicht.  Anästh Intensivmed. 1999;  40 96-99
  • 6 Deutsche Gesellschaft für Chirurgie . Resolution zur Behandlung Todkranker und Sterbender.  Anaesthesist. 1979;  28 357-358
  • 7 Lynn J, Harrell F, Cohn F. Prognoses of seriously ill hospitalized patients on the days before death: implications for patient care and public policy.  New Horizons. 1997;  5 56-61
  • 8 Reiter-Teil S. Ethik in der Klinik - Theorie für die Praxis: Ziele, Aufgaben und Möglichkeiten des Ethik- Konsils.  Ethik Med. 1999;  11 222-232
  • 9 Schubert J K, Nöldge-Schomburg G FE. Lassen sich Grenzen intensivtherapeutischen Handelns festlegen?.  Zentralbl Chir. 2001;  126 717-721
  • 10 Society of Critical Care Medicine Ethics Committee . Attitudes of critical care medicine professionals concerning forgoing life-sustaining treatments.  Crit Care Med. 1992;  20 320-326
  • 11 Society of Critical Care Medicine Ethics Committee . Consensus statement of the Society of Critical Care Medicine's Ethics Committee regarding futile and other possibly inadvisable treatments.  Crit Care Med. 1997;  25 887-891
  • 12 Task Force on Ethics of the Society of Critical Care Medicine . Consensus report on the ethics of foregoing life- sustaining treatments in the critically ill.  Crit Care Med. 1990;  18 1435-1439

Priv.-Doz. Dr. M. Mohr

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