intensiv 2001; 9(4): 168-175
DOI: 10.1055/s-2001-15730
Pflegewissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Transkulturalität und Leiblichkeit in der Pflege[1]

Charlotte Uzarewicz, Michael Uzarewicz
  • Ottenhofen
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Einführung

In den Sozial- und Kulturwissenschaften gibt es eine Vielzahl von theoretischen Ansätzen, die versuchen, „Kultur” zu definieren. Je nach Diskurs nimmt der Begriff unterschiedliche Bedeutungen an. Gemeinsam ist ihnen bisher gewesen, dass sie „Kultur” als eine homogene und nach außen abgeschlossene Einheit interpretierten. Der systematische Zusammenhang diverser Elemente und Phänomene, die zu einer „Kultur” zusammengefasst werden, wird dabei immer schon vorausgesetzt. Dementsprechend gestalten sich „cultural studies” regelmäßig als deduktive und subsumtionslogische Verfahren, die die zur Untersuchung anstehenden Phänomene, Ideen, Handlungen, Verhaltensweisen und Sachverhalte bloß noch von der Totalität der „Kultur(en)” ableiten. Sie zwingen das Unvereinbare unter „die falsche Versöhnung des unversöhnten Ganzen” [1]. Dass diese Verfahren nur in Tautologien münden können, ist (in) den meisten Wissenschaften dann deutlich geworden, als zunehmend auch Ergebnisse empirischer Untersuchungen berücksichtigt wurden. Hier zeigt sich, dass man mit einem vorab kategorisierend verzerrenden Vorverständnis lediglich das bestätigte, was man schon wusste und wahrscheinlich oft genug auch nur wissen wollte.

Im Folgenden werden wir begründen, warum man heute nicht mehr von der einen oder anderen Kultur sprechen kann; etwa in dem Sinne von: die Kultur der Deutschen, die türkische Kultur etc. „Es gibt nicht die Kultur; es gibt kulturelle Prozesse” [2]. Wir werden in der Begründung dieser These darauf eingehen, welche Konsequenzen es in der Praxis hat, wenn derartige Konzepte dem Handeln zugrunde gelegt werden. Dies sei mit den Stichworten Stereotypisierung, Diskriminierung, Kulturfalle hier nur kurz angedeutet. In einem zweiten Schritt versuchen wir zu verdeutlichen, dass es natürlich kulturelle Faktoren und Prozesse gibt, die bei Nichtberücksichtigung in der pflegerischen Praxis zu eklatanten Problemen und Defiziten führen. Der Unterschied zwischen „Kultur” (als Substantiv) und „kulturell” (als Adjektiv) ist keine Wortspielerei, denn die Art und Weise, wie Wörter oder Begriffe verwendet werden, drückt letztlich das zugrunde liegende Weltbild aus und prägt es. Die Kategorisierung der Welt in „Kulturen” ist selbst eine kulturelle und damit relative Wirklichkeitsdeutung. Transkulturalität bedeutet damit zuallererst transkategorial. In einem dritten Schritt geht es dann um Überlegungen, wie man kulturelle Aspekte im pflegerischen Handlungskontext deuten und verstehen lernen kann, ohne in Stereotypisierungen zu verfallen. Dieser erste Teil, in dem das Konzept der Transkulturalität herausgearbeitet wird, eröffnet einen hermeneutischen Zugang zu Patient(inn)en. Dem kognitivistischen Ansatz wird sodann ein leiblicher zur Seite gestellt, um einen spürenden Zugang zu den Patient(inn)en zu ermöglichen. Transkulturalität und Leiblichkeit sind zwei komplementäre Herangehensweisen an das Menschsein, die für die Pflege und Pflegewissenschaft innovativ sein dürften. Im vorliegenden Text werden zunächst nur die theoretischen Grundlagen einer so verstandenen transkulturellen Anthropologie aufgezeichnet. Hier sollen die Diskurse der „Transkulturalität” und der „Leiblichkeit” expliziert und dann zusammengeführt werden.[2]

Kritische Anmerkungen zum Kulturbegriff

Der Begriff Kultur steht für ein gesamtes Konzept, für ein Bedeutungsfeld. Der jeweils zugeschriebene Inhalt des Wortes bestimmt seine Verwendung. Wenn wir z. B. von der italienischen, griechischen, deutschen Kultur sprechen, fassen wir eine vorgestellte, abstrakte Menge von Menschen unter einem Sammelbegriff zusammen; dabei unterstellen wir, dass diese Menschen bestimmte Eigenschaften oder Merkmale (z. B. Sprache, Religion, Mentalität) teilen. Daraus resultiert eine wichtige Funktion des Kulturbegriffs: er suggeriert Einheit, Homogenität und Substanz; alle einer Kultur Zugehörigen sollen die dieser Kultur zugeschrieben Eigenschaften gleichermaßen besitzen sowie eine allen gemeinsame Wissens- und Sinnordnung. Sinn und Zweck eines solchen Kulturbegriffs, der in der modernen Terminologie mit kultureller Identität umschrieben wird, ist es, Orientierungshilfe zu geben. Hiermit ist aber der Mechanismus der Abgrenzung untrennbar verbunden: Wer gehört dazu, wer nicht? Wer wird integriert, wer nicht? Zu welcher Kultur kann ich mich als Individuum zurechnen? Wo werden die Grenzen von einem zum anderen Kulturbegriff gezogen und wo kann sich dabei der Einzelne verorten? Und vor allem: Wer zieht die Grenzen? Wer hat die Definitionsmacht?[3] Diese Fragen haben in großen Teilen der Sozial- und Kulturwissenschaften mittlerweile zu der Einsicht geführt, dass derartige differenzialistische und substantivistische Kulturbegriffe erkenntnistheoretisch unzulänglich sind, weil sie keine definierbaren, festgelegten Inhalte haben; ebenso wenig übrigens, wie die Rasse-, Ethnos- und Volksbegriffe[4], die im Dunstkreis von Kultur immer wieder auftauchen.

Derartige Kollektivbegriffe suggerieren Verhaltenssicherheit gegenüber den „anderen” und Stabilisierung des „Eigenen” [4]. Diese Verhaltenssicherheit, die der Kulturbegriff offeriert, ist jedoch trügerisch. Der Anspruch, eine kultursensible Pflege zu praktizieren, stellt uns deshalb vor drei große Probleme:

  1. Es gibt nach diesem substantivistisch-differenzialistischen Kulturbegriff unzählig viele Kulturen auf dieser Welt; je nach Kriterium bis zu 8000. Der Begriff der Transkulturalität konfrontiert uns jedoch mit unendlich viel mehr kulturellen Prozessen und Tendenzen. Potenziell haben wir es z.Zt. mit mehr als sechs Milliarden „Knotenpunkten” kultureller Prozesse zu tun. Kein Mensch ist wie der andere. Dieser Realität gilt es, sich mit aller Ernsthaftigkeit zu stellen.

  2. Der substantivistische Kulturbegriff ist eher statisch und erfasst in keiner Weise die heutigen gesellschaftlichen Lebensbedingungen (Migration, geografische und soziale Mobilität, Globalisierung und Individualisierung, Interferenzen und Hybridisierung der Lebensformen und -bereiche, Tourismus, Ende der „großen Erzählungen”). Um ein Beispiel zu geben: Auf wen würden wir im Pflegealltag den Begriff von der „türkischen Kultur” anwenden wollen, um „kulturadäquat” zu pflegen?
    - auf die „türkischen” Einwanderer der 1., 2., oder/und 3. Generation?
    - auf in der Türkei oder in Deutschland geborene „Türken”?
    - auf „Türken” mit deutscher Staatsbürgerschaft?
    - auf so genannte bikulturelle Personen?
    - auf einfache Arbeitsmigrant(inn)en?
    - auf „türkische” Industriemagnaten und Manager(innen)?
    - auf hier lebende „türkische” Staatsangehörige christlichen oder islamischen Glaubens?
    - auf „türkische” Einwanderer aus dem europäischen oder asiatischen Teil der Türkei?
    - auf „türkische” Einwanderer aus Großstadtregionen oder aus ländlichen Gebieten?

  3. Dieses Beispiel verweist auf das dritte Problem, welches wir als die „Kulturfalle” bezeichnen möchten. Im Versuch der Bestimmung dessen, was die eine oder die andere Kultur ausmachen soll, liegt die Gefahr der Festschreibung des Andersartigen als grundsätzlich (kulturell) Verschiedenem. Die einseitige Betonung von Kultur in der praktischen Anwendung kann dann zu einer so genannten Kulturalisierung (oder Ethnisierung) sozialer Probleme führen. Die „Kulturen” werden naturalisiert und damit argumentativ immunisiert. So kann z. B. ein schlechter Heilungserfolg oder fehlende Kooperation seitens der Patient(inn)en mit ihrer kulturellen Andersartigkeit abgetan werden („wir haben alles versucht, aber die sind eben so!”). Das verhindert einen genaueren Blick auf die Gesamtsituation, in der vielleicht eher ökonomische Ursachen (zu wenig Geld, um teure Medikamente zu kaufen) oder soziale Ursachen (z. B. fehlende Bildung und damit ein grundsätzliches Ungleichgewicht in der Kommunikationssituation) für das Verhalten verantwortlich sind. Und letztlich führt die Bindung des Kulturbegriffs an den der Nation (z. B. die türkische Kultur, die deutsche Kultur) zu derartigen Verallgemeinerungen, dass sie lediglich Stereotypisierungen und Vorurteilsbildungen verstärken. Ein allgemeines Anzeichen für die Wirkungsmächtigkeit der Kulturfalle ist die Thematisierung der Kulturproblematik im Migrationskontext, wobei stillschweigend immer die gewöhnliche Arbeitsmigration gemeint ist. In Bezug auf den begüterten Medizintourismus z. B. ist bislang noch keine Kulturproblematik „entdeckt” worden.

Transkulturalität und professionelle Pflege

Die Menschen haben so viele Gemeinsamkeiten wie Unterschiede. Wer wollte das bestreiten? Diese Aussage bezieht sich auf wirklich alle Menschen jenseits der Einteilung z. B. in kontingente Nationalstaaten. Das Gemeinsame resultiert daraus, dass wir Menschen[5] sind; aus den anthropologischen Tatsachen. Als Menschen werden wir in eine Welt „geworfen” (Heidegger), die wir uns aneignen, die wir umformen müssen, um in ihr leben und überleben zu können. Wir müssen unseren Lebensraum immer erst schaffen (auch das unterscheidet die Menschen u. a. von den Tieren). Das ist sozusagen unsere anthropologische Ausgangsposition. Wie wir dies jedoch tun, ist kulturell variant und von den verschiedensten Dimensionen abhängig. Die Unterschiede resultieren unter anderem aus:

  • sozialen Beziehungen

  • geographischen Ressourcen

  • ökologischen und klimatischen Bedingungen

  • demografischen Faktoren

  • Bildungsstand

  • Alter

  • Einkommen

  • Geschlecht

  • Religion bzw. Weltanschauung

  • körperliche und leibliche Disposition, Intellekt

Alle diese Faktoren (und wohl noch einige mehr) bilden zusammen in ihren Durchmischungen, ihren Veränderungen, Ungleichzeitigkeiten, Homologien, Heterogenitäten und Hybridisierungen zu einzigartigen kulturellen Verknotungen und Vernetzungen die Substanz unseres Daseins. Das heißt aber gerade nicht, dass die Einzelfaktoren, auch wenn sie jeweils von vielen geteilt werden, in einem kollektiven Kulturkonzept aufgehen. Sie haben jede für sich ihre eigene Relevanz und wirken mehr oder weniger unterschwellig handlungsleitend.

Dieses Unterschwellige, Verborgene, das auch Bestandteil kultureller Prozesse ist, kann man als „Wissens- und Sinnordnung” bezeichnen; also bestimmte Strukturen, eben Ordnungen, die das Wissen in spezifischer Art und Weise systematisieren und hierarchisieren. Wissens- und Sinnordnungen sind letztlich „Schemata”, aus denen sich „unendlich viele mögliche und ‚passende‘ Überzeugungen und Handlungen ableiten” lassen [5]. In den Wissens- und Sinnordnungen geht es um verschiedene Hierarchieraster des Wissens, wobei sich ein Individuum immer mehrerer (kognitiver, ästhetischer, normativer und leiblicher) Wissens- und Sinnordnungen gleichzeitig bedient, teils bewusst, viel mehr jedoch unbewusst oder halbbewusst[6]. Genau an diesen Übergangszonen bietet das Konzept der Transkulturalität sowohl einen theoretischen Zugang als auch einen erweiterten und erweiternden Handlungsrahmen für die und in der Pflege. Es betont die Gemeinsamkeiten, ohne die Unterschiede zu negieren. Vielmehr radikalisiert es diese, indem es die behindernden Kategorien beseitigt. Transkulturalität zeigt auf:

  • dass es keine voneinander separierten „Kulturen” (mehr) geben kann;

  • dass sie als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand bestenfalls historisch von Interesse sein können;

  • dass es keine von anderen Bereichen (Ökonomie, Soziales, Ästhetik, Biologie, Moral) autonome „kulturelle Bereiche”, sozusagen „Subsysteme in der Sprache der Systemtheorie, gibt;

  • dass keine „hohe” und „niedere” „Kultur” bzw. Kultursphäre existiert;

  • dass es keine Natur- und im Gegensatz dazu Kulturmenschen gibt;

  •  dass es keine Kulturnationen gibt.

Transkulturalität kennt dementsprechend:

  • keine festen Grenzen, sondern nur „liminale Strukturen” [6];

  • keine absolut gültige universale Rationalität, sondern nur eine „transversale Vernunft” [7];

  • keine allein gültige kognitive Rationalität, sondern auch leibliche Vernunft.

Transkulturalität geht letztlich über das bloß Kulturelle hinaus, ohne es zu verabschieden. Ihr Untersuchungsgegenstand sind Individuen als soziokulturelle und historische Knotenpunkte. Transkulturalität beschreibt kulturelle Prozesse als flexibles individuelles Kondensat aus biografischen, soziografischen und ökologischen Faktoren, welches in Situationen immer neu verhandelt wird.

An den Individuen zeigt sich die „Dissemination” [8] kultureller Tendenzen und Phänomene sowie die Richtigkeit der These (sowohl von Weber, als auch noch zuletzt von Lyotard), dass Sinn und Bedeutung immer auf Individuen gemünzt sind, dass Sinn immer „Sinn für ein Subjekt ist” [7], sowie die Fragwürdigkeit kollektiver Sinn- und Bedeutungsstrukturen bzw. -ordnungen. Die Sinn-, Wissens- und Bedeutungsvielfalt, also aufgrund welchen Wissens ein Individuum einem Sachverhalt oder Phänomen welchen Sinn und welche Bedeutung beilegt, lässt sich nicht kollektivistisch zu „Kulturen” nivellieren. Woher sollten wir auch wissen, ob wir einem Sachverhalt den gleichen Sinn beilegen wie unser Gegenüber, wenn die Sprache selbst, mit der, in der wir uns verständigen, nicht sinnkonstituierend, sondern „ein Effekt der Sprachbewegung ist. Er kristallisiert sich immer nachträglich und reaktiv heraus” [7]. Der Sinn ist in der Sprache keineswegs ständig (omni-)präsent. Sie ist polyphon und durch die „Bündelstruktur ihrer Bedeutungen” [7] ausgewiesen. Insofern werden kollektive Sinn- und Bedeutungsstrukturen bzw. -ordnungen grundsätzlich fragwürdig.

Am Beispiel der Differenz zwischen Krankheit und Kranksein soll das kurz erläutert werden. Es gibt bezogen auf das Phänomen Krankheit verschiedene Wissens- und Sinnordnungen. In der biomedizinischen Nomenklatur wird Krankheit meist als „Abweichung von einem Soll- oder Normalwert” verstanden [9], stellt also eine biologisch-pathophysiologische Entität dar. In der Wissens- und Sinnordnung des/der Erkrankten wird Krankheit über einen „soziale(n) und kulturelle(n) Prozess” wahrgenommen: d. h., der Prozess verläuft „von der Wahrnehmung durch den Kranken oder seiner Gruppe ..., über seine Rezeption, Interpretation und Suche nach Abhilfe, vom eventuellen Hinzuziehen eines Spezialisten und dessen Reaktion bis hin zur Einschätzung des Ergebnisses der Behandlung. Die Bedeutung der einzelnen Elemente und ihr spezifischer Zusammenhang liegt nicht fest, sondern muss gesucht werden.”[9] Hier muss man also eher von Kranksein sprechen, welches als „Antwort auf Krankheit” verstanden werden kann und welches die „Krankheit in Verhalten und Erfahrung” formt [9]. „Kranksein ist die psychosoziale Erfahrung und Bedeutungsgebung der wahrgenommenen Krankheit. Kranksein beinhaltet Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, affektive Antwort, Kognition (sowie eigenleibliche Erfahrungen und Erfahrungsverarbeitung; d. V.) und Einschätzung von Krankheit. Kranksein bedeutet auch Kommunikation und Interaktion in der sozialen Gruppe” [9]. Eine Grippe ist eben nicht jedes Mal bei jedem die gleiche Grippe und ein Beinbruch ist nicht immer der gleiche Beinbruch. Deutlicher wird der Unterschied zwischen Krankheit und Kranksein, wenn man versucht, „krank” mit den Hilfsverben „sein” und „haben” zu verbinden. Wir sagen: „ich bin krank”; nicht: „ich habe krank”; und wir sagen auch: „ich habe eine Krankheit”; nicht: „ich bin eine Krankheit”. Letztlich ist jeder und jede auf spezifische Weise krank. Der/die Patient/-in spürt etwas, der/die Arzt/Ärztin jedoch bringt es auf einen diagnostischen Begriff.[7]

Ziel einer transkulturellen Pflege sollte die Verknüpfung von (individuellen) Verhaltensweisen, Interpretationen und (kollektiven) Wissens- und Sinnordnungen sein, oder anders gesagt, die „Explikation alltäglicher Orientierungsmuster und kommunikativer Regelsysteme” [10]. Dies geschieht in der Regel mit biografischen Methoden, die an den Individuen ansetzen und versuchen, „kulturelle Erfahrungsräume” bzw. Wissens- und Sinnordnungen herauszufiltern [10]. Eine professionelle transkulturelle Pflege soll in ihren Handlungsdimensionen genau diese Differenzen erfassen können, um patient(inn)enorientiert und der Situation angemessen reagieren zu können. Transkulturelle Kompetenz umfasst also folgende Punkte:

  1. Reflexion der eigenen persönlichen (gewöhnlich nicht bewussten) und der biomedizinischen Wissens- und Sinnordnungen.

  2. Erschließen der jeweils subjektiven Wissens- und Sinnordnungen der Klient(inn)en.

  3. Versuch einer Transformationsleistung im Sinne einer Ineinanderverschränkung (Interferenz [5]) der Wissens- und Sinnordnungen; die eigenen Deutungsmuster dürfen nicht als ausschließliche normative Grundlage dienen.

  4. Herausfiltern von Ähnlichkeiten/Gemeinsamkeiten sowie von Widersprüchen und Unterschieden, um Ansatzpunkte für eine gemeinsame Handlungsstrategie zu entwickeln.

Mit einem derartigen Vorgehen wird der substantivistisch-differenzialistische Kulturbegriff überwunden und nähert sich einem transkulturellen Pflegeverständnis, welches den Anspruch hat, die imaginierten Kulturgrenzen zu überwinden, weder die Unterschiede noch die Gemeinsamkeiten zu ignorieren und das dem Leben als permanentem Wandlungs- und Lernprozess Rechnung tragen will [4].

Um sich die verschiedenen Wissens- und Sinnordnungen zu erschließen, hat Kleinman so genannte Strukturfragen entwickelt. Diese setzen am einzelnen Menschen und seiner Lebensgeschichte an. Dieser Fragenkatalog ist für die pflegerische Tätigkeit ebenso relevant wie für die ärztliche. Da Pflegende jedoch durchschnittlich mehr, längere und intensivere Interaktions- und Kommunikationssituationen mit den Patient(inn)en haben, müssen sie in erster Linie um deren Deutungs- und Verhaltensmuster wissen. Mit ihrer so geschulten Kompetenz sollten sie in die Lage versetzt werden, in Zukunft ein Korrektiv ärztlicher Diagnosen zu sein. Die Strukturfragen lauten:

„1. Wie bezeichnen Sie das Problem?

2. Was ist Ihrer Meinung nach die Ursache des Problems?

3. Warum trat das Problem Ihrer Meinung nach gerade in dem Moment auf?

4. Wie wirkt sich die Krankheit Ihrer Meinung nach aus? Wie funktioniert sie?

5. Wie schlimm ist die Krankheit? Wird sie einen langen oder kurzen Verlauf nehmen?

6. Welche Behandlung sollte der Patient/die Patientin Ihrer Meinung nach erhalten? Welche Ergebnisse erhoffen Sie sich am meisten von dieser Therapie?

7. Was sind die größten Probleme, die die Krankheit verursacht hat?

8. Wovor haben Sie bei dieser Krankheit am meisten Angst?” [11] [8].

Bei diesen Fragen geht es um den Versuch, das Verständnis, die Wünsche und Sorgen des jeweiligen Gegenübers herauszupräparieren. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass die Antworten auf die Fragen aufgrund des jeweils eigenen Wissens- und Sinnrasters zunächst nicht verstanden bzw. gedeutet werden können. Daraus lässt sich schließen, dass, wenn man im Rahmen eigener Wissens- und Sinnordnungen Handlungen durchführt, diese gar nicht als solche wahrgenommen oder verstanden werden können. (Hier liegt oft ein Grund für die viel beschworene Noncompliance bei Patient(inn)en). Auch bezogen auf das Pflegeselbstverständnis gibt es große kulturelle Unterschiede. Unter den Pflegenden selbst gibt es nicht „die eine” Vorstellung von Pflege als professioneller Tätigkeit. Allgemein lässt sich jedoch formulieren - denkt man an Themen wie Scham, Ekel, Intimität -, dass Pflege immer etwas mit Grenzüberschreitungen zu tun hat.

Vor einer pflegerischen Intervention wäre zuallererst zu eruieren, und zwar für alle in der ganzen Pflegesituation Involvierten, was tabu (undenkbar) ist, was strikt (d. h. explizit) verboten ist, was zwar nicht explizit verboten, aber nicht gern gesehen wird, was neutral ist, was erlaubt ist, was gern gesehen wird, was explizit erwünscht ist, was unumgänglich ist; im Hinblick auf (moralische und juristische) Normen und auf nützliche Regeln, ästhetischen Geschmack und leibliches (Wohl-)Befinden. Auch diese Kategorien müssen zur Erschließung von Wissens- und Sinnordnungen herangezogen werden; sie geben Auskunft über die Hierarchien innerhalb einer Ordnung. Hieraus lässt sich ableiten, was als normal und was als unnormal gilt. Auf diesem Hintergrund können dann die tatsächlichen Praktiken untersucht werden: Wie wird die Situation auf dem Hintergrund ihrer Wissens- und Sinnordnungen von den Akteuren interpretiert und umgesetzt, d. h. befolgt, übersetzt, ignoriert, explizit opponiert; im Hinblick wiederum auf welche Ziele in welcher Situation von welchen Akteuren für welche Personen.

Für eine Interpretation zur Erschließung der Wissens- und Sinnordnungen ist also nicht nur das „Was” von Bedeutung, sondern auch das „Wie” der Beantwortung der Fragen. Dass was erzählt wird, ist der kognitiven Erschließung zugänglich. Dass wie erzählt wird, berührt die gesamte Atmosphäre und bildet eine Anschlussstelle zur leiblichen Interpretation (siehe weiter unten). Ziel einer derartig subjektorientierten Arbeit wäre ein Aushandlungsprozess, der die unterschiedlichen Wissensordnungen zusammenbringt, und dieser Prozess hätte selbst bereits therapeutischen Charakter.

1 Die allgemeinen Ausführungen zum Kulturbegriff sind dem Vortrag „Pflege und Kultur - Theoretische Überlegungen zu einem praktischen Problem” entnommen, den Ch. Uzarewicz am 27.11.2001 auf dem Europäischen Kongress für Pflege in München gehalten habe. Die Ausführungen zur Leiblichkeit knüpfen an den Artikel „Das Objekt der Begierde in der Intensivpflege: der menschliche Körper?” an, der in der Zeitschrift Intensiv 1997; 4: 144-148 erschienen ist [14].

Literatur

  • 1 Gamm G. Nicht nichts. Studien zur Semantik des Unbestimmten Frankfurt/Main; Suhrkamp 2000
  • 2 Lipp W. Kulturtypen, kulturelle Symbole, Handlungswelt.  Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 1979;  31 450-484
  • 3 Uzarewicz C, Uzarewicz M. Kollektive Identität und Tod. Zur Bedeutung nationaler und ethnischer Konstruktionen Frankfurt/Main; Peter Lang 1998
  • 4 Uzarewicz C. Transkulturalität. Kollak I, Kim SH Pflegetheoretische Grundbegriffe Bern u.a; Huber 1999 113-128
  • 5 Reckwitz A. Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms Weilerswist; Velbrück Wissenschaft 2000 165f: 298
  • 6 Turner V. Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels Frankfurt/Main; Fischer 1995
  • 7 Welsch W. Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft Frankfurt/Main; Suhrkamp 1996: 280, 283
  • 8 Derrida J. Dissemination. Wien; Passagen 1998
  • 9 Lux T. Krankheit als semantisches Netzwerk. Ein Modell zur Analyse der Kulturabhängigkeit von Krankheit Berlin; VWB 1999: 12, 13, 127
  • 10 Bohnsack R, Marotzki W. Biographieforschung und Kulturanalyse. Transdisziplinäre Zugänge qualitativer Forschung Opladen; Leske + Budrich 1998: 7, 8
  • 11 Fadiman A. Der Geist packt dich und du stürzt zu Boden. Ein Hmong-Kind, seine westlichen Ärzte und der Zusammenprall zweier Kulturen Berlin; Berlin, 2000: 267-268
  • 12 Schmitz H. Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn; Bouvier 1994: 120, 21ff., 120
  • 13 Schmitz H. System der Philosophie, Bd. II. Der Leib. Teilbd. 1 Bonn; Bouvier Verlag 1998: 12, 13, 24, 25, 26
  • 14 Uzarewicz C. Das Objekt der Begierde in der Intensivpflege: der menschliche Körper?.  Intensiv. 1997;  4 144-148
  • 15 Soentgen J. Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz Bonn; Bouvier 1998: 37, 38, 16
  • 16 Schmitz H. Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik Paderborn; Junfermann 1992: 12, 59, 53, 13, 55, 289-316
  • 17 Canetti E. Masse und Macht. Frankfurt/Main; Fischer 1988: 223-248
  • 18 Schmitz H. System der Philosophie Bd. III Der Raum, Teilbd. 1. Der leibliche Raum Bonn; Bouvier 1998 296
  • 19 Knigge A Freiherr von. Über den Umgang mit Menschen. Frankfurt/Main; Insel 1977 255: (erstmals erschienen 1788; 1790 in einer redigierten Fassung aufgelegt)
  • 20 Schmitz H. System der Philosophie. Die Person Bonn; Bouvier 1990 Bd. IV: 417f
  • 21 Schmitz H. System der Philosophie. Bd. III Der Raum, Teilbd. 5. Die Wahrnehmung Bonn; Bouvier 1989

1 Die allgemeinen Ausführungen zum Kulturbegriff sind dem Vortrag „Pflege und Kultur - Theoretische Überlegungen zu einem praktischen Problem” entnommen, den Ch. Uzarewicz am 27.11.2001 auf dem Europäischen Kongress für Pflege in München gehalten habe. Die Ausführungen zur Leiblichkeit knüpfen an den Artikel „Das Objekt der Begierde in der Intensivpflege: der menschliche Körper?” an, der in der Zeitschrift Intensiv 1997; 4: 144-148 erschienen ist [14].

2 Therapeutische und handlungstheoretische Aspekte hoffen wir in einer späteren Publikation darlegen zu können.

3 Erinnert sei z.B. an - rechte und linke - separatistische Bewegungen weltweit, die sich auf die Bewahrung ihrer vermeintlich „authentischen” Kulturen kapriziert haben, an die These vom „clash of cultures”, an die alte nationalistische Polemik von „deutscher Kultur” und bloßer „welscher Zivilisation” oder an die aktuelle Debatte um eine „deutsche Leitkultur”, an die sich die „ ausländischen Zuwanderer” anzupassen hätten. Man muss wohl nicht hinzufügen, dass derartige Debatten längst keine „deutsche” Spezialität mehr sind.

4 Ethnien, Rassen, Völker sind Konstrukte, die ihren eigenen Anspruch als biologische Substrate oder kulturelle Lebensgemeinschaften nie wirklich belegen konnten [3].

5 Während die Binnendifferenzen innerhalb sog. „Rassen”, „Kulturen”, „Ethnien”, „Klassen” und allen anderen Einteilungen der Menschen regelmäßig größer sind als die zwischen diesen Einteilungen, sind die Binnendifferenzen innerhalb der Gattung Mensch im Vergleich zu anderen Gattungen regelmäßig kleiner als die Differenzen zwischen den Gattungen. Das „Wesen des Menschen”, um einen von der kulturrelativistischen Kritik seinerzeit mit guten Gründen denunzierten Begriff der philosophischen Anthropologie aufzugreifen, erschöpft sich nicht, auch nicht in Abgrenzung gegenüber anderen Gattungen, in einem oder einigen wenigen Kriterien. Der Mensch ist eben nicht nur das „zweibeinige, federnlose Wesen”, wie Platon uns so griffig vorführen wollte und über das sich Diogenes, ihm ein gerupftes Huhn vorhaltend, lustig machte: „Da hast du deinen Menschen!”

6 Das ist für unser Alltagshandeln meistens kein Problem. Um damit aber in einem profes­sionellen Pflegekontext adäquat umgehen zu können, ist ein Lernen jenseits des repetitiven Lernbegriffs notwendig. Wir bezeichnen das als sensibili­sierendes reflexives Lernen. Diese Art von Lernen bezieht sich auf die Entwicklung einer Kompetenz, Strukturen von Wissens- und Sinnordnungen in ihrer Pluralität und Widersprüchlichkeit zu erkennen, sich darauf einlassen zu können, um spezifische Synergieeffekte aus den verschiedenen Wissens- und Sinnordnungen zu forcieren bzw. zu minimieren.

7 Die Medizin - und nicht nur die Medizin - hat nicht annähernd so vielfältig differenzierende Begriff für Gesundheit wie für Krankheit entwickelt. Sie kennt unendlich viele Krankheiten, aber offensichtlich nur eine Gesundheit, die sie auch nur in Bezug auf Krankheit, negativ als nicht krank, versteht. Im Vorgriff auf spätere Ausführungen sei der Hinweis gestattet, dass hier vermutlich einer der blinden Flecken klassischer Medizin im Hinblick auf Leiblichkeit zu verorten ist.

8 Zum allgemeinen Verständnis: Diese Fragen werden von den Mediziner(inne)n bzw. Pflegenden an die Erkrankten oder ihre Angehörigen gestellt. 

9 Tiefes Aus- und Einatmen dürfte diese Tendenzen am eindringlichsten veranschaulichen.

10 Das signifikanteste Beispiel dürfte der Schmerz in seinen Variationen sein.

11 Die praktischen Erfolge z.B. der basalen Stimulation bei Komapatient(inn)en und Apalliker(inne)n zeigen deutlich, dass sie etwas spüren, dementsprechend nicht „weg” sind und daher auch nicht bewusstlos bzw. ohne Bewusstsein sind.

12 Leibliche Kommunikation ist keineswegs auf den Dialog von Mensch(en) zu Mensch(en) oder Mensch(en) und Tier(en) beschränkt. Leibliche Kommunikation „funktioniert” mit Pflanzen ebenso wie mit Dingen oder Sachen. Gekonntes Autofahren oder gekonntes Klavierspiel sind Beispiele dafür, dass hier leibliche Kommunikation in Gestalt der Einleibung vorliegt, die sich gerade nicht der Kognition bedienen muss. Wer beim Autofahren oder Klavierspielen über die Handgriffe nachdenken muß, sollte am Straßenverkehr besser nicht teilnehmen oder wird niemals ein Klavierspieler. Allerdings darf zumindest beim Autofahren der Faden zwischen Enge und Weite der leiblichen Ökonomie niemals völlig abreißen. Viele Autounfälle, die traditionell darauf zurückgeführt werden, dass der Fahrer eingeschlafen sei - der berühmte sog. Sekundenschlaf -, dürften eher damit zu tun haben, dass der Fahrer sich z.B. in die Landschaft (vor allem beim Fahren auf der Autobahn) so vollständig eingeleibt hat, dass er „weg” war.

13 Die Wahrnehmung setzt sich nicht aus einzelnen Elementen synthetisch zusammen. Auf Einzelheiten kommt es allzu oft gar nicht an, wie das berühmte, immer wieder für Belustigung (oder Verärgerung) sorgende Beispiel des Ehemannes zeigt, der auch nach vieljähriger Ehe die Augenfarbe der Ehefrau nicht nennen kann. Vgl. [12, 21].

14 Eines von vielen Beispielen, die von Schmitz vorgebracht werden: „... der Soldat empfindet die Wunde, die er seinem Gegner beibringt, insofern mit, als er deutlich mit der Spitze des Säbels dies Einschneiden in den Widerstand leistenden Körper fühlt” [18].

15 Den Hinweis auf Knigge haben wir bei Soentgen 1998:36 gefunden [15].

16 Allein dieses Beispiel sollte darauf aufmerksam machen, wie unzureichend medizinische und philosophische Modelle sind, die auf in sich voneinander abgekapselten, sozusagen in einem Hautsack eingeschlossenen Individuen beruhen.

17 Auch die Kommunikationsforschung kann sich dieses „Feld der Phänomene” nicht anders begreifbar machen denn rein negativ als „nonverbale Kommunikation”, nach dem Muster „Leben” als bloße „Abwesenheit des Todes” zu verkennen.

18 Eine transkulturelle Pflegeforschung wäre erst noch zu initiieren, die die leibliche Kommunikation zwischen Menschen, die z.B. nicht die gleiche Sprache sprechen und doch kommunizieren, systematisch untersucht.

19 In gewisser Hinsicht ist es sogar transhuman, weil es uns auf seiner elementaren Ebene einen Zugang zu anderen Lebewesen und sogar Sachen und Dingen erlaubt, der sich zwar an der eigenen Leiblichkeit gebildet hat, diese aber transzendiert.

Charlotte Uzarewicz

Riveratstraße 5

85570 Ottenhofen

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