intensiv 2001; 9(4): 176-183
DOI: 10.1055/s-2001-15729
Ethik
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Schließlich wird den wenigsten ein Tod ohne Sterben zuteil!” (Thomas Bernhard)

Ethische Reflexion und Entscheidungsfindung eines intensivpflegerischen (intensivtherapeutischen) Fallbeispiels[1] Stefan Kliesch1 , Ingeborg Markmeyer2 , Martin Pope2 , Sabine Siemann2
  • Zentrum für Ethik & Kommunikation
  • , Klinikum Osnabrück
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Einleitung und Problemstellung

Die offensichtliche Häufung von ethischen Fragestellungen in Grenzbereichen am Ende des Lebens auf einer Intensivstation veranlasst uns, das multidisziplinäre Gespräch zu suchen und weiterzuführen.

Pflegende erleben Entscheidungen zur Begrenzung oder Weiterführung einmal begonnener therapeutischer Maßnahmen zunehmend als fragwürdig: „Muss das denn noch sein? Das ist doch menschenunwürdig!” Diese Äußerungen von Kollegen drücken ihre außerordentlichen psychohygienischen Belastungen aus: Angst und Hilflosigkeit um die gelingende Sorge für den anvertrauten Menschen.

Sie verdeutlichen zudem die moralische Verunsicherung jedes Mitarbeiters, die das Bedürfnis nach ethischer Orientierung not-wendigerweise hervorbringt. „Moralisch” betrifft dann das individuelle Werte- und Normensystem, das durch die Lebensgeschichte des Einzelnen geformt und ausgebildet wurde. Jede Person hat ihre Vorstellung von gut und schlecht, von richtig und falsch. Dieses moralische Selbstverständnis gilt es ernst zu nehmen. Wird es z. B. durch berufliche Konfliktsituationen grundlegend erschüttert, ruft dies den Wunsch und die Notwendigkeit nach ethischer Orientierung hervor. „Ethisch” meint - im Unterschied zu „moralisch” - die systematische Reflexion in Bezug auf das gute und richtige Entscheiden und Handeln anhand von Prinzipien und Maßstäben [1] [2].

Ausgangspunkt der Autoren ist die moralische Verunsicherung im alltäglichen pflegerischen Handeln anhand konkreter Fallarbeit. Wir wollen mit diesem Artikel verdeutlichen, dass ethische Reflexion eine wirkliche Hilfe zur beruflichen Orientierung (nicht nur) von Pflegenden ist.

Unsere These ist: Die ethische Reflexion unterstützt die moralische Vergewisserung des Einzelnen und fördert die dem Gewissen verpflichtete berufliche (Eigen-)Verantwortung. Moralisches Lernen durch ethische Reflexion erhöht die Kompetenz, konfliktreiche Situationen adäquat einzuschätzen und das Für und Wider begründet abzuwägen, um zufriedenstellender für alle Beteiligten mit zukünftigen Konfliktsituationen umzugehen. Ethische Reflexion als institutionelles Entscheiden und Handeln bedarf der Interdisziplinarität und hat ihren originären Ort als Ethikberatung für Patienten und Angehörige, Mitarbeiter und die Krankenhausleitung. Die Autoren favorisieren das Ethik-Komitee als die geeignete Möglichkeit von Ethikberatung im Krankenhaus, weil Ethik selbst als diskursiver Prozess zu verstehen ist, der dem Einzelnen in seiner Entscheidungsfindung Unterstützung anbietet, ihm aber niemals die individuelle Entscheidungsverantwortung abnimmt [3]. Die individuelle und institutionelle ethische Reflexion sind Instrumente der Qualitätssicherung im Krankenhaus.

Die Autoren zeigen anhand eines Fallbeispiels aus ihrer intensivpflegerischen Praxis den Prozess der ethischen Reflexion von der Fallschilderung bis zur Entscheidungsformulierung in Form eines Votums auf (praktischer Diskurs). Das hier vorgestellte und angewandte Modell zur ethischen Entscheidungsfindung basiert in veränderter und weiterentwickelter Form auf der Systematik von Marianne Rabe, das sie in Zusammenarbeit mit der AG Pflege und Ethik der Akademie für Ethik in der Medizin entwickelt hat [4] (Abb. [1]).

Abb. 1 Modell ethischer Entscheidungsfindung.[2]

Im Anschluss an diesen ethischen Entscheidungsfindungsprozess, skizzieren wir Schritte zur Optimierung von interdisziplinären Kommunikationsprozessen.

1 * Der vorliegende Artikel basiert auf einer Facharbeit im Rahmen des innerbetrieblichen Weiterbildungslehrgangs von Martin Pope, Sabine Siemann und Ingeborg Markmeyer zum Mentor im Klinikum Osnabrück. Gemeinsam mit Stefan Kliesch wuchs das Anliegen der Veröffentlichung der Erkenntnisse. Die Autoren danken den Kollegen des pflegerischen, medizinischen und seelsorglichen Dienstes für viele unterstützende Gespräche sowie für die Aufgeschlossenheit durch die Klinikleitung.

Literatur

  • 1 Lesch W. Ethik und Moral/Gut und Böse/Richtig und Falsch. Wils JP, Mieth D Grundbegriffe der christlichen Ethik Paderborn; Schöningh 1992
  • 2 Arndt M. Ethik denken - Maßstäbe zum Handeln in der Pflege. Stuttgart; Thieme 1996
  • 3 Deutscher Evangelischer Krankenhausverband e. V., Katholischer Krankenhausverband e. V., Ethik-Komitee im Krankenhaus .Freiburg; 1997
  • 4 Rabe M. Dumm gelaufen - und dann?.  intensiv. 1998;  6 217-221
  • 5 Mieth D. Gewissen. Wils JP, Mieth D Grundbegriffe der christlichen Ethik Paderborn; Schöningh 1992
  • 6 Ginters R. Werte und Normen. Düsseldorf; Patmos 1982
  • 7 Schüller B. Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der Moraltheologie Düsseldorf; Patmos 1987
  • 8 Beckmann J O. Behandlungsverzicht/Behandlungsabbruch. Korff W, Beck L, Mikat P Lexikon der Bioethik. Bd 1 Gütersloh; Gütersloher Verlagshaus 1998: 316-320
  • 9 Eibach U. Sterbehilfe - Tötung aus Mitleid?. Euthanasie und „lebensunwertes” Leben Wuppertal; Brockhaus 1998
  • 10 Birnbacher D. Tun und Unterlassen. Reclam Stuttgart; 1995
  • 11 Gordijn B, Steinkamp N. Entwicklung und Aufbau Klinischer Ethikkomitees in einem konfessionellen Krankenhaus.  Zeitschrift für medizinische Ethik. 2000;  46 305-310
  • 12 Hofman I. Verrat am Menschen? Wenn die Pflege hinter ihrem state of the art zurückbleibt.  Zeitschrift für medizinische Ethik. 1999;  5 185-196
  • 13 Ärztliches Urteilen und Handeln. Honnefelder L, Rager G Zur Grundlegung einer medizinischen Ethik Frankfurt a M; Insel 1994
  • 14 Kohlen H. Sicherung des Patientenwillens durch „Ethikvisite” und „Pflegevisite”.  Zeitschrift für medizinische Ethik. 1999;  45 197-204
  • 15 Pieper A. Autonomie. Korff W, Beck L, Mikat P Lexikon der Bioethik. Bd 1 Gütersloh; Gütersloher Verlagshaus 1998: 289-293
  • 16 Pieper A. Einführung in die Ethik. Tübingen; Francke 2000
  • 17 Reiter-Theil S, Lenz G. Probleme der Behandlungsbegrenzung im Kontext einer internistischen Intensivstation.  Zeitschrift für medizinische Ethik. 1999;  45 205-216
  • 18 Schaefer K. Erfahrungen mit der Einrichtung eines Ethikkomitees in einem konfessionellen Krankenhaus.  Zeitschrift für medizinische Ethik. 2000;  46 299-304
  • 19 Schockenhoff E. Sterbehilfe und Menschenwürde. Begleitung zu einem „eigenen Tod” Regensburg; Pustet 1991
  • 20 Simon A. Klinische Ethikberatung in Deutschland. Erfahrungen aus dem Krankenhaus Neu-Mariahilf in Göttingen. Körner U Berliner Medizinethische Schriften Dortmund; Humanitas 2000
  • 21 50 Tage intensiv oder: die menschliche Würde im Krankenhaus. Strätling-Tölle H Frankfurt a M; Mabuse 2000
  • 22 Zimmermann-Acklin M. Zur Sterbehilfediskussion in der theologischen Ethik. Bockenheimer-Lucius G Ethik in der Medizin 2000 12: 2-15

1 * Der vorliegende Artikel basiert auf einer Facharbeit im Rahmen des innerbetrieblichen Weiterbildungslehrgangs von Martin Pope, Sabine Siemann und Ingeborg Markmeyer zum Mentor im Klinikum Osnabrück. Gemeinsam mit Stefan Kliesch wuchs das Anliegen der Veröffentlichung der Erkenntnisse. Die Autoren danken den Kollegen des pflegerischen, medizinischen und seelsorglichen Dienstes für viele unterstützende Gespräche sowie für die Aufgeschlossenheit durch die Klinikleitung.

2 Die Autoren verwenden das Modell, weil es sich in den verschiedenen Fallbesprechungen bewährt hat und in Ethik-Komitees angewandt wird. Es beruht auf dem unveröffentlichten Manuskript „Ethikberatung in der Praxis” von Ethik & Kommunikation, Osnabrück.

3 Alle personenbezogenen Daten wurden von den Autoren verfremdet.

4 Shunt: operativ hergestellte künstliche Verbindung zwischen arteriellem und venösem Gefäßsystem.

5 Demerskatheter: Silikonkatheter, der chirurgisch in die V. jugularis oder die V. subclavia implantiert wird.

6 PEG-Sonde: percutane endoskopische Gastrostomie; es wird eine äußere Magenfistel zwischen Körperhöhle und Körperoberfläche geschaffen.

7 Die Autoren haben sich für die Ich-Perspektive entschieden, um die Betroffenheit der Beteiligten authentischer zu Wort kommen zu lassen. Die Schilderung beruht auf Gesprächen mit den Beteiligten, bleibt aber eine Annäherung an das wirkliche Erleben des Einzelnen in der Situation. Den Autoren ist dieses Spannungsverhältnis bewusst.

8 Die moralische Qualität eines Entscheidungsträgers bleibt im gesamten Entscheidungsfindungsprozess unangetastet [5].

9 Durch die Sichtung der Tatsachen in Rahmen der Werteanamnese ist systematisch Widerspruchsfreiheit gesichert [6, 7].

10 Die Autoren verweisen darauf, dass aus ethischer Sicht nicht automatisch bei nichtvorhandenem Willen alles für die Lebenserhaltung der Patientin spricht.

Stefan Kliesch

Ethik & Kommunikation
Seminare Training Workshops
in Fort- und Weiterbildung für Pflegende und Ärzte

Quellwiese 82

49080 Osnabrück

Email: stefankliesch@foni.net

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